Das Leben Dignāgas und Dharmakīrtis

Vorwort: Die nachfolgenden Lebensbeschreibungen (Viten) der indischen Meister Dignāga und Dharmakīrti stellen die Beschriebenen als „Heilige“ im Sinne vorbildhaft-buddhistisch Übender dar. Buddhistisch hagiografische Darstellungen dienen u.a. der Inspiration für die spirituelle Praxis.

Aus Hagiografien lässt sich trotz ihres kritiklosen und euphemischen Charakters einiges lernen, wie z.B. Qualitäten oder Wertevorstellungen, die für die spirituelle Praxis oder Religionsausübung traditionell als wichtig oder richtig betrachtet werden.

Aus der Biographie Dharmakīrtis lässt sich insbesondere lernen, dass Schüler ihre buddhistischen Lehrer übertreffen können, dass Lehrer Fehler machen und dass man sie darauf respektvoll aufmerksam machen kann. Dharmakīrti tat dies mit seinem Lehrer Īśvarasena, der nicht so meisterhaft wie Dharmakīrti war und Fehler beim Erklären eines Textes seines eigenen Meisters, Dignāga, machte. Als Dharmakīrti seinen Lehrer Īśvarasena respektvoll auf die gemachten Fehler hinwies, reagierte Īśvarasena erfreut darauf.

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1. Die Meister der Erkenntnistheorie und Logik

1.1 Das Leben Dignāgas¹

Diese große Persönlichkeit,² allgemein bekannt unter dem Namen „Dignāga“,³ Schüler des Meisters Vasubhandu, wurde in der südindischen Stadt Siṅgapakta in der Brāhmanen-Kaste geboren. Schon bald nach seiner Geburt wurde er ein perfekter Gelehrter in all den Veden der Brāhmanen und auch auf allen anderen Wissensgebieten. Dadurch, dass sich in ihm Veranlagungen entfalteten, an die er sich in der Vergangenheit über lange Zeit gewöhnt hatte, sah er den gesamten Daseinskreislauf wie einen Pfuhl von loderndem Feuer an. So trat er aufgrund seiner starken Entsagung und ohne jede Anhaftung an die Brāhmanen-Kaste, an Güter oder an eine große Schülerschar bei dem Abt Langpo Dschin von der Vatsīputrīya-Schule [– einer der 18 Unterschulen der Vaibhāṣikas –] in den Mönchsorden ein. Dabei nahm er den Namen „Dignāga“ an. Gestützt auf diesen Abt wurde er zu einem Gelehrten der Drei Schriftabteilungen, wobei er dem System der Vatsīputrīyas folgte [– jener Schule, der der Abt angehörte –] und erlangte eine besondere, außergewöhnliche Einsicht in diese.

DignagaDignāga
(c. 480 – c. 540 CE)
© Chris Banigan

Danach hatte er den Wunsch, alle Schriften und Meditationsanweisungen des Großen Fahrzeugs zu lernen, und daher begab er sich zu dem Meister Vasubandhu. In ähnlicher Weise, wie eine Vase wohl angefüllt wird, lernte er in vortrefflicher Weise all die Schriftabteilungen des Großen und Kleinen Fahrzeugs im allgemeinen; im besonderen lernte er die Sūtra-Abteilungen und Meditationsanweisungen des Großen Fahrzeugs, wie sie vom Ehrwürdigen Maitreya überliefert wurden. An die 500 Sūtras des Großen Fahrzeugs wurden zu seinen [regelmäßigen] Rezitationen.

Dann erhielt er von einem Vajra-Meister in vortrefflicher Weise die Initiation und Verwirklichungsmethode¹⁰ des Ehrwürdigen Mañjuśrī und übte diese aus. Dadurch erlangte er eine unmittelbare, klare Vision des Ehrwürdigen Mañjuśrī und erhielt von ihm in vortrefflicher Weise Anweisungen und Lehren. Fortan sah er, wann immer er es wünschte, das Angesicht des Ehrwürdigen Mañjuśrī und erhielt Unterweisungen von ihm.

Später verweilte er in einsgerichteter Ausübung in einer Felshöhle eines völlig abgelegenen Waldes in dem Land Oḍiviśa. Danach lebte er in Nālandā. Wenn es dort zu Debatten mit den [nicht-buddhistischen] Furtlern¹¹ kam, so wurden sie von diesem Meister besiegt. Diese große Persönlichkeit kommentierte im allgemeinen die Gedanken sämtlicher Heiligen Reden des Siegers [Buddha], im besonderen aber ist es verbreitet, dass er 100 Abhandlungen über Gültige Erkenntnis¹² wie Die Untersuchung der Wahrnehmung¹³ und andere verfasste, in denen er die Gültige Erkenntnis eindeutig definierte.

Nochmals ging er in das Land Oḍiviśa und widmete sich in der gleichen Höhle wie zuvor einsgerichtet der tiefen Meditation. Zu einer Zeit, als er mit großer Barmherzigkeit die Schüler betrachtete, denen das Auge der Logik fehlt, und er den Wunsch empfand, ihnen das Auge der Logik zu öffnen, sah er, dass zum einen die Schüler nur von äußerst schwacher Verstandeskraft waren und dass zum andern die früher verfassten Abhandlungen über Gültige Erkenntnis nur in großer Anzahl und daher gewissermaßen verstreut existierten. Er beabsichtigte deshalb, das Kompendium der Gültigen Erkenntnis¹⁴ zu verfassen, einen Kommentar zu den Heiligen Schriften im allgemeinen, in dem er die wichtigen Punkte aller früher verfassten Abhandlungen über Gültige Erkenntnis zusammenfassen wollte.

Er begann das Werk damit, dass er mit Kreide auf die Felswand in seiner Höhle den einleitenden Vers der Ehrung schrieb:

Ich verneige mich vor dem, der der Gültige geworden ist; der die Aufgabe angenommen hat, den Wesen zu helfen: vor dem Lehrer, dem Sugata, dem Zufluchtgewährenden.

Schon allein dadurch, dass er dies schrieb, leuchtete in den Bereichen der Welt ein hell strahlendes Licht, die Erde bebte, und großer Lärm verbreitete sich. Den Furtlern schlotterten die Waden. Als der Furtler Kriśnamunirāja¹⁵ dies sah, fragte er sich, wofür es wohl ein Zeichen sei, und untersuchte es mit seiner Hellsichtigkeit. Dadurch sah er, dass dies auf die Kraft des Segens zurückzuführen war, der dadurch zustande kam, dass Dignāga den Ausdruck der Ehrung seiner Lehrrede über Gültige Erkenntnis¹⁶ geschrieben hatte.

Als der Meister auf Almosengang war, kam Kriśnamunirāja daraufhin mit seinen magischen Kräften zu dessen Höhle und wischte die Worte der Ehrung weg. Nachdem dies dreimal nacheinander so geschehen war, schrieb der Meister auf die Felswand: „Falls jemand diese Worte aus bloßer Willkür wegwischt, so möge er es bitte lassen, denn sie haben eine große Bedeutung; falls er aber darüber debattieren möchte, so möge er sich zeigen, und ich werde mit ihm debattieren.“

Als Dignāga das nächste Mal von seinem Almosengang zurückkam, saß Kriśnamunirāja tatsächlich da, und mit seiner makellosen Logik besiegte Dignāga ihn dreimal. Da [wurde der Furtler wütend] und sagte: „Nun wollen wir uns in unseren magischen Kräften messen!“, und er ließ Feuer aus seinem Mund lodern, das die drei Roben des Meisters und all seine Habe verbrannte.

Der Meister wurde äußerst betrübt und dachte: „Wenn die Wesen so unvorstellbar bösartig sind wie dieser Mensch, kann ich unmöglich das Wohl aller fühlenden Wesen erwirken! Statt dessen will ich, wenn diese Tafel auf die Erde fällt, nur noch danach trachten, mich selbst zu befreien!“, und mit diesen Gedanken warf er seine Schreibtafel in die Luft, doch der Moment, dass sie wieder herunterfiel, trat nicht ein. Als er zum Himmel schaute, sah er den Ehrwürdigen Mañjuśrī, dessen Anblick so wunderbar war, dass man ihn nie genug hätte anschauen können. Er trug die Tafel in seinen Händen, und mit seiner Kraft spendenden Stimme prophezeite er: „Mein Sohn, tue das nicht, tue das nicht! Durch das Treffen auf ein geringeres Fahrzeug entsteht ein schlechter Verstand! Wisse, dass die Scharen von Furtlern dieser Abhandlung von dir keinen Schaden zufügen können! Ich werde dein geistiger Lehrer sein, solange du noch nicht selbst die Hohen Ebenen erreicht hast! In späterer Zeit wird gerade dieses Werk das einzige Auge aller Wesen sein!“

So ermahnte er ihn, das Kompendium der Gültigen Erkenntnis doch zu verfassen. Dadurch entwickelte der Meister Dignāga wieder großes Mitleid und fasste großen Mut; er schrieb daraufhin das Kompendium der Gültigen Erkenntnis und schenkte damit allen Wesen auf [unserem Kontinent] Jambudvīpa¹⁷ das Auge des Verstandes.

Danach verweilte er wieder in tiefer, einsgerichteter Meditation, wodurch er das Angesicht vieler Buddhas schaute und viele hunderte von Konzentrationen erlangte. Die Götter ließen Blumenregen fallen, und selbst die Bäume und die Blumen in dem Wald beugten ihre Köpfe in Richtung des Meisters. Selbst die Elefanten und die anderen wilden Tiere, die in dem Wald lebten, beugten ihre Köpfe vor den Füßen des Meisters und nahmen eine respektvolle Haltung an. Und auch der König jenes Landes mit seinem Gefolge erwies ihm seine Hochachtung.

Dann ging er in den Süden und besiegte die schlechten Verkünder der Furtler. Er gab vielen Saṅgha-Gemeinschaften ausführliche Erläuterungen zu den Drei Schriftabteilungen und verbreitete sehr stark die Lehre des Buddha.

Danach ging er wieder in das Land Oḍiviśa und bekehrte den König jenes Landes zusammen mit seinem Gefolge zur Lehre des Buddha. Er gründete viele Saṅgha-Gemeinschaften, wobei ein mächtiger Brāhmane [namens Bhadrapālita] der Gönner war. Damit die Menschen jenes Landes Glauben in die Lehre des Buddha finden konnten, besprach er einen großen, ausgetrockneten Arura-Baum mit den Worten der Wahrheit und erweckte ihn damit wieder zum Leben.

Nachdem er auf diese Weise in allen Gegenden des Heiligen Landes [Indien] die Lehre des Buddha verbreitet hatte, verschied er in der gleichen Höhle in der Einsamkeit des Waldes in Oḍiviśa unter vielen wundersamen Omen in eine andere Welt.

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1.2 Das Leben Dharmakīrtis¹⁸

Dharmakīrti wurde in der südindischen Stadt Cūdāmani¹⁹ geboren, die auch Trimalaya genannt wird. Sein Vater war ein Brāhmane mit Namen Rorunanda (Ratandrānan). Er war ein Anhänger der Lehre der Tīrthikas („Furtler“). Schon im frühen Alter wurde Dharmakīrti in den Künsten, den Veden, in Medizin, Grammatik und den Lehrmeinungen der Tīrthikas ein Gelehrter. Als er jedoch einige der Lehren des Buddha erblickte, erkannte er, dass seine eigenen Lehrer in die Irre gingen, dass ihre Schriften nicht korrekt waren, und dass sie im Widerspruch zu den Lehren des Buddha standen. Es entstand eine große Wertschätzung für die Buddhalehre in ihm, und er nahm das Gewand eines buddhistischen Laienanhängers an. Dieses führte dazu, dass er aus der Gemeinschaft der Brāhmanen ausgestoßen wurde, und so reiste er zum Zentrum des Landes. Dort erhielt er vom Meister Dharmapāla²⁰ die Mönchsgelübde und studierte die Drei Schriftabteilungen vom Anfang bis zum Ende. Jeden Tag rezitierte er 500 Sūtras und Mantra-Schriften.

DharmakirtiDharmakīrti (c. 7. Jahrhundert)
© Chris Banigan

Er lauschte den Erklärungen zu vielen Texten über Logik, konnte durch diese jedoch nicht zufriedengestellt werden. Von Īśvarasena,²¹ einem Schüler des Meisters Dignāga, hörte er Erklärungen über dessen Kompendium der Gültigen Erkenntnis, und bereits beim ersten Hören glich sein Verständnis dem seines Lehrers. Beim zweiten Hören glich es dem von Dignāga, und beim dritten Hören verstand er, dass Īśvarasena, der nicht so meisterhaft wie Dignāga war, Fehler beim Erklären des Textes beging. Dharmakīrti machte ihn respektvoll auf diese Fehler aufmerksam. Īśvarasena war erfreut und sagte: „Oh, du bist gleich dem Meister Dignāga selbst. Du solltest einen Kommentar zum Kompendium der Gültigen Erkenntnis verfassen, der alle falschen Interpretationen berichtigt.“

Danach erhielt Dharmakīrti eine Einweihung von dem Mahāsiddha Dingi. Er übte sehr intensiv Meditation, und es erschien ihm eine Vision Herukas. „Was begehrst Du?“ fragte Heruka. „Ich begehre den Sieg über alle zehn Richtungen“,  entgegnete er. „Ha, Ha, Hūṃ!“  brüllte Heruka und verschwand. Daraufhin verfasste Dharmakīrti den Kontinuierlichen Lobpreis²² an Heruka. Danach erkannte er, dass es sinnvoll wäre, die geheime Logik der Tīrthikas kennenzulernen, wenn er diese völlig widerlegen wollte. So verkleidete er sich als Bettler und ging nach Süden, auf der Suche nach dem größten Meister der Tīrthika-Lehrmeinungen. Dies, so erzählte man ihm, sei Kumāralīla,²³ dem große Macht vom König übertragen war und der viele Felder, Viehzeug, Büffel und anderes mehr besaß. Kumāralīla und seine Frau unterhielten 1000 männliche und weibliche Diener. Dharmakīrti begann, für sie zu arbeiten, und verrichtete dabei soviele Arbeiten wie 50 männliche und weibliche Bedienstete gleichzeitig. Dadurch waren die Brāhmanen hoch erfreut und fragten ihn, ob es irgendetwas gäbe, das er wünsche. „Ich möchte Euch lehren hören,“ antwortete er. Es wurde ihm die Aufnahme in die Schülerschaft gestattet. Jedoch gab es einige geheime Lehren, die niemand außer der Frau und den Kindern von Kumāralīla hören durfte. Er dachte bei sich, dass diese Lehren wertvoll für ihn seien, und so brachte er sie in Erfahrung, indem er Kumāralīlas Frau und Kinder befragte.

Nachdem er vollkommene Meisterschaft über die Methodik des Widerlegens erlangt hatte, wünschte er fortzugehen. Weil er wusste, dass die Brāhmanen am Reichtum hingen, fand er es unangebracht, keine Geschenke zu machen. Daher gab er der Frau und den Kindern 500 Silberstücke, die er erspart hatte. Kumāralīla selbst schenkte er 7000 goldene Münzen, die er von einem nahe wohnenden Yakṣa²⁴ erhalten hatte. Noch in derselben Nacht verließ er heimlich das Haus.

Kurz darauf brachte er in dem großen Handelszentrum Kākaguhā, wo sich der Palast des Königs Druhmaripu befand, eine Notiz an. Sie lautete nur: „Wer möchte mich zum Debattieren treffen?“ Kāṇagupta, ein Brāhmane, der die Lehrmeinungen der Kāṇada-Schule hielt, sowie 500 andere Tīrthikas versammelten sich. Drei Monate lang debattierten sie mit ihm. Am Ende dieser Zeit waren sie alle zum Buddhismus übergetreten. Der König befahl, dass die 50 reichsten Brahmanen unter ihnen je eine Dharma-Institution errichten sollten.

Als Kumāralīla davon hörte, kam er zusammen mit 500 Mitgliedern seiner Begleitung, um zu debattieren. Er schlug dem König vor: „Wenn ich gewinne, soll Dharmakīrti getötet werden. Wenn Dharmakīrti den Sieg davon trägt, möge man mich töten.“ Meister Dharmakīrti antwortete: „Wenn Kumāralīla gewinnt, muss ich entweder die Tīrthika-Lehre annehmen, sterben oder ich werde gebunden oder geschlagen. Ihre Majestät möge die Auswahl treffen. Wenn ich gewinne, soll Kumāralīla nicht getötet werden, sondern muss statt dessen zum Buddhismus übertreten.“ So debattierten sie. Jede von Kumāralīlas 500 besonderen Theorien wurde mit 100 logischen Argumentationen zunichte gemacht. Kumāralīla und alle 500 Mitglieder seiner Gefolgschaft wurden Buddhisten und nahmen die Ordination. Bei dieser Gelegenheit besiegte Dharmakīrti den Nirgrantha Rāhuvrati, den Mīmāṃsaka Bhragāraguhya, den Brāhmanen Kumārānanda und den führenden Tīrthika-Logiker, Kanādaroru und alle anderen Gegner, die in Vindhyācala wohnten.

Dann reiste er in das Land Dravāli, wo er wiederum seine Herausforderung verbreitete: „Wer möchte mit mir debattieren?“ Daraufhin flohen fast alle der Tīrthikas. Die wenigen, die dies nicht taten, waren nicht fähig, ihm in der Debatte standzuhalten und unterwarfen sich. Er wiederbelebte die Dharma-Institutionen des Landes, die verfallen waren. Dann begab er sich an einem abgeschiedenen Ort in Meditation.

Zu jener Zeit sandte [der Brāhmane] Śankarācārya eine Botschaft nach Nālandā, in der er um eine Debatte bat. Die Mönche von Nālandā zögerten den Zeitpunkt hinaus. Sie legten einen Termin in der fernen Zukunft fest und luden Dharmakīrti aus dem Süden ein. Als der Zeitpunkt der Debatte gekommen war, brachte der König Pradyota die Brāhmanen-Tīrthikas und die Buddhisten nach Varanasi und richtete es so ein, dass sie in Gegenwart von ihm und seinem Gefolge als Schiedsrichter debattierten.

Śankarācārya erklärte: „Wenn ich gewinne, müssen du und alle deine Nachfolger entweder in den Ganges springen oder die Tīrthika-Lehre annehmen. Wenn du gewinnst, werden wir in den Ganges springen und uns selbst umbringen.“

Śankarācārya wurde geschlagen und bereitete sich darauf vor, sich selbst zu töten. Der Meister versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber er hörte nicht auf ihn.  Śankarācārya ermahnte seinen Schüler Bhatta-Ācārya: „Debattiere mit diesem Kahlgeschorenen und besiege ihn. Ich selbst werde wieder als dein Sohn Geburt annehmen. Wenn du nicht siegreich bist, werde ich dann eines Tages wieder mit ihm debattieren.“ Nachdem er dieses gesagt hatte, warf er sich in den Ganges und ertrank. Die meisten seiner Schüler nahmen den Buddhismus als ihre Lehre an; der Rest floh in weite Ferne.

Im Jahr darauf wurde Bhatta-Ācārya ein Sohn geboren. Drei Jahre lang bereitete sich Bhatta-Ācārya auf die Debatte mit Dharmakīrti vor. Er kontemplierte drei weitere Jahre über die Logik der Widerlegung, und im siebten Jahr setzte er seine Überzeugung aufs Spiel und debattierte mit Dharmakīrti. Doch er wurde geschlagen und sprang, genau wie es sein Lehrer getan hatte, in den Ganges und ertrank. Sein älterer Sohn, Bhatta-Ācārya der Zweite, die Reinkarnation von Śankarācārya und viele der Brāhmanen flohen weit nach Osten. Etwa 500 der aufrichtigen Brāhmanen aber nahmen Ordination in der buddhistischen Tradition und weitere 500 nahmen als Laien Zuflucht zu den Drei Juwelen.

Zu jener Zeit kamen zwei Brāhmanen, Pūrna²⁵ aus Māgadha und Pūrnabhadra²⁶ aus Mathurā²⁷, um zu debattieren. Beide waren reich, in der Logik geschult und von Sarasvatī²⁸ und Vishnu²⁹ gesegnet. Der Ācārya besiegte jedoch beide und bekehrte sie zum Buddhismus. Ein jeder von ihnen errichtete 50 Dharma-Institutionen in seinem eigenen Heimatland.

Eine geraume Zeit danach verweilte Dharmakīrti in den Dschungeln von Mātanga in der Nähe des Landes Māgadha und übte sich im Mantra. Daraufhin ging er nach Vindhyācala³⁰ zu dem Palast des Königs Utpullapuśpa,³¹ der über drei Millionen Siedlungen regierte und unsagbar wohlhabend war. Als der König Dharmakīrti fragte, wer er sei, antwortete dieser:

Ich bin im Besitz der Weisheit Dignāgas
und spreche so rein wie Candragomīn,
ich schreibe so geschickt wie Aśvaghoṣa
und bin überall siegreich,
wenn nicht ich, wer könnte es sein?

Der König verstand, dass dieser Mann nur Dharmakīrti sein konnte, und errichtete viele Tempel. Während der Ācārya dort verweilte, verfasste er die Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis.³² Dann brachte er folgende Nachricht an des Königs Tür an:

Wenn die Sonne der Belehrungen
des Dharmakīrti untergehen sollte,
wird der gesamte Dharma schlafen oder absterben,
und die Kräfte des Materialismus werden aufkommen.

In der Verbreitung der glücksverheißenden Lehre in diesem Land war er sehr aktiv; er ordinierte 10.000 Mönche und errichtete 50 Dharma-Institutionen.

Die Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis enthalten drei hauptsächliche Texte, die dem Stamm eines Baumes gleichen:

  1. Kommentar zu [Dignāgas ‚Kompendium] der Gültigen Erkenntnis‘,³³
  2. Feststellung der Gültigen Erkenntnis,³⁴
  3. Tropfen der Beweisführung.³⁵

Aus diesen Texten gingen vier weitere hervor, die den Ästen eines Baumes gleichen:

  1. Beweisführung für die Debatte,³⁶
  2. Untersuchung der Beziehungen,³⁷
  3. Nachweis des Kontinuums anderer,³⁸
  4. Tropfen von Begründungen.³⁹

Einst lud König Utpullapuśpa den Meister zu einem Mahl von scharf gewürztem Gemüse ein, doch da dieser völlig in das Erwägen des Sinngehaltes der Texte vertieft war, merkte er gar nichts von dem Geschmack der Speise. Als das Mahl vorüber war, fragte der König ihn danach. Dharmakīrti entgegnete: „Majestät, wenn Sie jemanden zu bestrafen haben, so hüllen sie ihn in weiße Kleidung. Lassen sie ihn einen mit Öl randvoll gefüllten Krug tragen und sagen Sie ihm, dass er getötet wird, wenn er auch nur einen einzigen Tropfen verschüttet. Lassen Sie ihn auf diese Art den Palast umwandeln, gefolgt von einem Mann, der ein Schwert hält. Umgeben Sie den Palast mit singenden Spielleuten und Tänzern. Wenn Sie so verfahren und anschließend den Mann nach den Sängern und Tänzern befragen, wird er nichts davon wissen, da er völlig gesammelt war.“

Es war weithin bekannt, dass Dharmakīrti gleichzeitig mit zehn Gegnern debattieren konnte. Als die Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis vollendet waren, wurden sie gemäß der Tradition jener Zeit allen Paṇḍits vorgestellt. Die meisten von ihnen verstanden sie jedoch nicht. Und die wenigen, die sie verstehen konnten, verkündeten unter der Macht der Eifersucht, die sie beherrschte, dass die Texte wertlos seien. So wurden die Schriften an den Schwanz eines Hundes gebunden, [der dann durch die Straßen gejagt wurde]. Doch der Meister verkündete: „Genau wie dieser Hund auf vielen Straßen läuft, so wird sich auch mein Text in alle zehn Richtungen verbreiten!“, und fügte folgenden Vers am Anfang des Textes hinzu:

Die meisten Wesen werden einzig zum Weltlichen hingezogen, und da ihnen die unterscheidene Weisheit fehlt, finden sie kein Interesse an der Bedeutung der ausgezeichneten Lehren. Darüber hinaus ist ihr Charakter verbittert, befleckt von Eifersucht. Daher ist es nicht meine Absicht, mit diesem Text solchen Wesen zu helfen. Dennoch erfreue ich mich an ihm, da er auf ganz natürliche Weise für eine lange Zeit Vertrautheit meines Geistes mit den exzellenten Lehren gewähren wird.

Später lehrte er die gesamten Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis den Ācāryas Devendrabuddhi⁴⁰ und Śākyabuddhi⁴¹ und empfahl Devendrabuddhi, seinen – Dharmakīrtis – eigenen unvollendeten Kommentar [zum Kommentar zur Gültigen Erkenntnis] zu Ende zu bringen. Devendrabuddhi tat dieses. Der Meister aber warf das Resultat in den Fluß. Den zweiten Versuch warf er ins Feuer. Sein Schüler verfasste einen dritten Kommentar und überschrieb ihn demütig mit folgender Bemerkung: „Obwohl mir kein Glück obliegt, die Zeit jedoch nicht stehen bleibt, schreibe ich, nur um mich selbst damit vertraut zu machen, diesen schwierigen Kommentar, indem ich mich auf die Schriften stütze.“

Dharmakīrti bemerkte: „Obwohl einige Punkte weiterführender Erläuterungen bedürfen und auch die Passagen mit verborgenem Sinngehalt nicht gut erklärt worden sind, ist doch die unmittelbare Bedeutung dieser Lehren korrekt wiedergegeben worden.“ Er behielt den Text, dachte jedoch bei sich: „In der Tat, keiner versteht meine Beweisführung völlig.“ Am Ende seines Kommentar zur Gültigen Erkenntnis schrieb er folgende Verse:

Wie ein Fluß dem Ozean zufließt, so fließt die [Bedeutung der Schriften] mir zu und geht in mir auf. Ich, der ich weise bin im Unterscheiden zwischen Pfad und Nicht-Pfad, der ich das Nest der falschen Theorien verbrenne und den Pfad der vollkommenen Beweisführung lehre, indem ich dem Erhabenen [Dignāga] selbst nachfolge; der ich die Schriften an das Tageslicht bringe und 100 Vortrefflichkeiten besitze; der ich den schlechten Geist aufgegeben und mich somit jeglicher Furcht entledigt habe, werde daher mit dem ungetrübten Auge der Weisheit den Lotus [des Verstandes] in den Weisen öffnen.

Danach ging er in das Grenzland von Gujurāta und bekehrte die Brāhmanen und viele andere Tīrthikas zum Buddhismus. Auch errichtete er dort den Gotapurī Tempel. Die Tīrthikas dieses Landes steckten das Haus des Meisters in Brand und ließen es niederbrennen. Mit seinen magischen Kräfte jedoch erhob er sich in den Himmel und flog fast eine Meile (Yojana) weit zu einem Platz in der Nähe des Palastes des Königs.

In der Zwischenzeit war die Reinkarnation von Śankarācārya herangewachsen und war noch gelehrter und scharfsinniger als die vorherige. Als er das Alter von 15 oder 16 Jahren erreicht hatte, wurde ihm das vollständige Angesicht Mahādevas⁴² über einer Vase in seinem Raum offenbart. Er entschied sich für die Debatte mit dem Meister und ging nach Varanasi, um mit dem König Mahāsyani zu sprechen. Eine Erklärung wurde verlautbart, und die Neuigkeit verbreitete sich. Der Meister wurde aus dem Süden eingeladen. Schätzungsweise 5000 Brāhmanen, viele Könige und unzählige gewöhnliche Menschen versammelten sich. Wie zuvor besiegte Dharmakīrti Śankarācārya, worauf dieser sich wieder im Ganges ertränkte. Viele der Brāhmanen nahmen die Laien- oder Ordinationsgelübde.

Zu jener Zeit kamen drei Brāhmanen aus Kashmir, um Dharmakīrti zu sehen: Vidyāsimha, Devavidyākara und Devasimha. Sie befragten ihn ausführlich und mit zielgerichtetem Geist nach seinen Lehrmeinungen. Der Ācārya demonstrierte ihnen die einwandfreie Beweisführung hinter seinem philosophischen System, gewährte ihnen Zuflucht [zu den Drei Juwelen, Buddha, Dharma und Saṅgha] und ermahnte sie dazu, die Übungen beizubehalten. Sie wurden ungemein meisterhaft in den Sieben Abhandlungen über Gültige Erkenntnis und kehrten nach Kashmir zurück, wo sie die Tradition Dharmakīrtis verbreiteten.

Der Meister ging in den Süden zurück und belebte in vollkommener Weise überall dort die Lehre, wo sie degeneriert war. Er selbst errichtete ungefähr 100 Tempel. Die Anzahl derjenigen, die, durch seine Gegenwart inspiriert, spontan Tempelbauten errichteten, ist nicht zu ermessen. Er führte nahezu 100.000 Menschen als Ordinierte oder Laien in die Lehre ein, obwohl die Anzahl derjenigen, die ihm vollkommen folgten, nicht mehr als fünf betrug.

Gegen Ende des Lebens Dharmakīrtis nahm Śankarācārya als Sohn von Bhatta-Ācārya dem Zweiten erneut Geburt an. Seine Geisteskraft war sogar noch mächtiger als zuvor. Des öfteren erschienen ihm seine Gottheiten, die ihn Logik lehrten, und einige Male gingen sie gar in ihn ein. Er legte eine Logik dar, die niemals zuvor auf der Erde existiert hatte. Im Alter von zwölf Jahren verlangte es ihn, mit Dharmakīrti zu debattieren. Die Brāhmanen erzählten ihm jedoch: „Debattiere zunächst eine Weile mit anderen; Dharmakīrti wird überaus schwer zu schlagen sein.“ Er entgegnete jedoch: „Wenn ich nicht über Dharmakīrti den Sieg davon trage, wird alles andere bedeutungslos sein.“ So reiste er nach Süden, wo er den Meister traf und [mit ihm debattierte]. Somit nahm er das Risiko auf sich, seine eigene Lehrauffassung in der Debatte nicht mehr halten zu können. Dharmakīrti besiegte ihn abermals. Dieses Mal jedoch nahm er den Buddhismus an. Von da an führte dieser Brāhmane ein Leben als Laienanhänger und brachte der Buddha-Lehre Verehrung dar.

Schließlich baute Dharmakīrti einen Tempel in dem Land Kalinga, führte viele Menschen zum Dharma und verschied. Sein Körper wurde an einer Leichenstätte aufgebahrt und verbrannt. Anschließend regnete es Blumen, es verbreitete sich Musik und ein süßer Duft. Die gesamte Asche sammelte sich wieder von selbst, und kein Knochen blieb übrig.

Dieser große Meister lebte zur selben Zeit wie der tibetische König Songtsän Gampo⁴³ [im 7. Jhdt. n.Chr.].


Fußnoten

¹ Diese kurze Biographie stammt aus Katschen Yesche Gyältsäns Biographien der Meister der Überlieferungslinie der Stufen auf dem Pfad zum Erwachen (bKa' chen ye shes rgyal mtshan, Lam rim gyi bla ma rgyud pa'i rnam thar), Band nga, 93a.2-95a.4 (Übersetzung ins Deutsche: Christof Spitz)

² Mahātma, bdag nyid chen po.

³ Tib. Phyogs kyi glang po.

 Es ist unklar, wann Dignāga genau gelebt hat, wahrscheinlich im 6. Jahrhundert. Dharmakīrti, der in der Mitte des 7. Jahrhunderts lebte, war kein direkter Schüler Dignāgas, aber er traf noch mit dessen direktem Schüler Iśvarasena zusammen. Die Übertragungslinie der Lehrer ist also: Vasubandhu-Dignāga-Iśvarasena-Dharmakīrti.

 Tib. rig byed.

 Tib. gLang po byin.

 tripiṭaka, sde snod gsum.

 In anderen Biographien heißt es dazu, dass er mit der philosophischen Ansicht seines Lehrers nicht mehr übereinstimmte, da dieser, entsprechend der Vatsīputrīya-Lehrmeinung, ein „unbeschreibliches Selbst“ vertrat. Diese These war für Dignāga unhaltbar, und so suchte er den berühmten Meister Vasubandhu auf, um ein direkter Schüler von ihm zu werden.

 abhiṣeka, dbang.

¹⁰ sādhana, sgrub thabs.

¹¹ tīrthika, mu stegs pa. „Furtler“ sind Verkünder von nicht-buddhistischen Lehrmeinungen. Sie halten die Drei Juwelen für keine Zuflucht und akzeptieren nicht die Vier Siegel, die eine Ansicht als buddhistische ausweisen. Sie werden von den Buddhisten „Furtler“ (Skt. Tīrthikas) genannt, weil sie behaupten, mit ihrem System eine Furt durch den Strom des leidvollen Daseins zum anderen Ufer der Erlösung gefunden und dargelegt zu haben, welches aber (nach buddhistischer Auffassung) nicht zu diesem gewünschten Ziel führt.

¹² pramāṇa, tshad ma.

¹³ Ālambanaparīkṣa, dMigs pa brtag pa.

¹⁴ Pramāṇasamuccaya, Tshad ma kun btus.

¹⁵ Tib. Mu stegs Thub rgyal nag po.

¹⁶ Pramāṇasūtra, Tshad ma'i mdo. Dies ist ein anderer Titel für das oben erwähnte Werk Kompendium der Gültigen Erkenntnis.

¹⁷ Nach der traditionellen indischen Kosmologie ist Jambudvīpa der südlich vom Berg Meru gelegene Hauptkontinent, auf dem die Menschen unserer Art leben.

¹⁸ Die folgende traditionelle Biographie stammt aus: Lobsang N. Tsonawa (transl.), Indian Buddhist Pandits, from „The Juwel Garland of Buddhist History“, Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala 1985, S. 46 ff. (Übersetzung ins Deutsche: Jürgen Manshardt)

¹⁹ Tib. rGyal wa gtsug gi norbu. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Ort in Nord-Tamil.

²⁰ Tib. Slob dpon chos skyong.

²¹ Tib. dBang phyug sde.

²² Tib. bsTod pa rgyun chags.

²³ Tib. gZhon nu rol pa.

²⁴ Tib. gnod sbyin. Eine Art Dämon oder auch ein bestimmter Reichtumsgott.

²⁵ Tib. Gang ba.

²⁶ Tib. Gang ba bzang po.

²⁷ Tib. bcom brlag.

²⁸ Tib. dbYang can ma.

²⁹ Tib. Khyab 'jug.

³⁰ Tib. 'bigs jed.

³¹ Tib. Me tog kun tu rgyas pa.

³² Tib. Tsad ma sde bdun.

³³ Pramāṇavarttikakārikā.

³⁴ Pramāṇaviniścaya.

³⁵ Nyāyabinduprakarana.

³⁶ Vādanyāya.

³⁷ Saṃbandhaparīkṣāvṛtti.

³⁸ Saṃtānāntarasiddhi.

³⁹ Hetubindu.

⁴⁰ Tib. Lha dbang blo.

⁴¹ Tib. Sha' kya blo.

⁴² Tib. dBang phyug.

⁴³ Song gtsan gam po.

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© Christof Spitz, Library of Tibetan Works and Archives (LTWA) & Jürgen Manshardt
Mit freundlicher Genehmigung von Christof Spitz, Library of Tibetan Works and Archives (LTWA) & Jürgen Manshardt

Zeichnungen: © Chris Banigan