Demontage 2.0: Stephen Batchelors säkularer Buddhismus

Alfred Weil

Eine Replik zu Stephen Batchelors Sichtweisen über einen säkularen Buddhismus oder Buddhismus 2.0 für das 21. Jahrhundert. (Auszug: PDF) Für eine Ausführung zu Ansichten des säkularen Buddhismus siehe auch: „Säkularer Buddhismus – Ein Klärungsversuch“ – Frank Hendrik Hortz.

Warum Stephen Batchelors Ansatz nicht zum Kern des Dharma zurückführt, sondern in den Grenzen des Zeitgeistigen steckenbleibt, beschreibt Alfred Weil in seinem Beitrag. Für ihn werden damit die Lehren des Buddha auf eine weltlich-vordergründige Ebene reduziert und ihrer religiösen Dimension beraubt. Für Alfred Weil ein folgenschwerer Verlust.

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Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Das prophetische Wort des Buddha, seine Lehre werde in reiner Form nur vergleichsweise kurzen Bestand haben, zeigt sich schon lange als richtig. Man könnte nun meinen, Stephen Batchelor mache den Versuch, mit seinen Reformüberlegungen wieder zum Kern des Dharma zurückzuführen. Das aber ist nicht der Fall. Seine Darlegungen zielen meines Erachtens auf das genaue Gegenteil. Sein Buddhismus 2.0 erweist sich geradezu als Demontage 2.0 (oder weit höheren Grades) des Buddha-Dharma. Batchelor macht sich mit seinen Thesen zu einem prominenten Wegbereiter einer fortschreitenden Banalisierung der buddhistischen Lehren.

Säkular

Stephen Batchelor nimmt für sich in Anspruch, ein „säkularer Buddhist“ zu sein. Damit distanziert er sich vom Buddhismus im Sinne einer „Religion“ und verankert sich in dem „Zeitalter, in dem wir uns befinden“. Sein Anliegen ist, sich vollkommen auf die vorhandene Situation einzulassen und auf das „Drängende und die Krisen der Zeit“ einzugehen. Gegen Letzteres ist nichts zu sagen, aber schade, wenn es (nur) dabei bleibt.

Die Botschaft des Buddha hat nämlich eine ganz eigenen Qualität, sie zielt weit über das Gegenwärtige hinaus, ja, sie ist nach eigenem Bekunden akaliko – zeitlos. Zeitlos in dem Sinn, dass ihre Wahrheiten jenseits historischer Gegebenheiten Gültigkeit besitzen und behalten ebenso wie ihre praktische Nutzanwendung. Spiritualität hat nicht nur die gegenwärtigen Sorgen und Nöte der Menschen im Auge, sondern ihre existenziellen Fragen und Probleme, die vor 2 500 Jahren dieselben waren wie heute.

Die europäische Finanzkrise, die atomare Verseuchung in Japan, die Gewaltausbrüche im Nahen Osten, die sozialen Verwerfungen in unseren Gesellschaften, Vereinsamung, Sinnentleerung und tausend andere Dinge mit ihren schmerzhaften Auswirkungen auf die persönlichen Lebensverläufe gehören zu unserer Zeit. Aber sie sind nur zeitgebundene Symptome allgemeiner geistiger Phänomene, die oft in die (etwas zugespitzte) Formel „Gier, Hass und Verblendung“ gefasst werden. Sie hatte der Buddha im Auge, hier sah er das Problem und den Lösungsansatz.

Aus den nichtbeherrschten universellen psychischen Kräften des Mögens, Nichtmögens und der Täuschung ergeben sich immer wieder die Krisen, die das beste weltliche Krisenmanagement nicht beheben kann: Altwerden, Krankwerden, Sterbenmüssen; die eigenen Wünsche und Hoffnungen nicht erfüllt sehen, Verlust und Trauer ertragen müssen. In den Worten des Buddha formuliert: Die Wandelbarkeit, Unzulänglichkeit und Unbeherrschbarkeit dieser Welt sind die (zeitlosen) Herausforderungen. Im Konkreten muss auch das Allgemeine sichtbar werden, im Aktuellen das Zeitlose.

Hintergründe

Wie kommt es zu dem säkularen Kurzschluss Batechlors? Warum verengt sich sein Blick so? Einen wichtigen Grund könnte man mit dem gängigen Satz umschreiben: „Heute wissen wir ja, dass …“ oder in seiner Steigerungsform „Zum Glück wissen wir heute ja, dass …“ Er steht für die feste Überzeugung, dass das menschliche Wissen im 21. Jahrhundert das gegenwärtig mögliche Maximum an Einsicht darstellt, während beispielweise tradierte Aussagen über Karma und Wiedergeburt aus einer „vorwissenschaftlichen Zeit“ stammen und sich damit weitgehend überholt haben. Für den säkularen Buddhismus stecken die Naturwissenschaften den Rahmen ab, im dem die buddhistischen Lehren ihre Gültigkeit erweisen müssen.

Batchelor hat kein Vertrauen in das, was ein Erwachter lehrt, wohl aber in das, was Menschen „Wissen“schaft nennen. Wie viele baut er auf deren Ergebnisse (und hat mit den technischen Errungenschaften sogar ein scheinbar gutes Argument). Allerdings: Die allermeisten von uns sind wissenschaftliche Laien und damit gar nicht in der Lage, die Ergebnisse der modernen Forschung ernsthaft zu kontrollieren. Wir sind den Aussagen der „Experten“ ausgeliefert und nehmen sie meist vertrauensvoll an, aber sehen uns seltsamerweise auf der Seite des Wissens. Die Geschichte der Wissenschaft ist jedoch auch immer eine Geschichte ihrer Irrtümer. Was gestern unumstößliche Wahrheit war, ist heute nachweislich falsch. Für Batchelor ist aber Buddhismus „nicht etwas, woran es zu glauben gilt“, doch er merkt nicht, dass er im Grunde nur einem andern Glaubenssystem folgt.

Dass der Buddha-Dharma auch eine Wissenschaft, ja „die“ Wissenschaft schlechthin ist, und zwar die des Geistes bzw. der Existenz, aber in einer ganz anderen, universellen Dimension zuhause ist, kommt ihm gar nicht in den Blick. Dass sie mit Nachdruck zu eigener Erfahrung und damit zum Nachprüfen einlädt, bleibt außen vor.

Damit geschieht etwas tatsächlich Tragisches: Statt den Dharma als ein Instrument zu nutzen, um die eigene verengte Sichtweise zu erweitern und zu revolutionieren, wird die menschliche Ahnungslosigkeit zur Grundlage gemacht, um den Buddha zu korrigieren bzw. um festzustellen, was buddhistisch ist und was nicht. Unser Geist wird nicht in die Richtung des Erwachens geführt, sondern die Lehren des Buddha werden so zurechtgestutzt, dass sie in die kleinen menschlichen Köpfe passen. Was aus der höchsten Perspektive Unwissen, Blindheit und Täuschung genannt wird, wird zur Basis eines „zeitgemäßen“ Weltbildes und einer entsprechenden Lebenspraxis.

Damit wird auch der Buddha degradiert. Aus einer erhabenen, alles überragenden Gestalt wird eine geschichtliche Figur, interessant und inspirierend zwar, aber doch ein Kind seiner Zeit voller Beschränkungen und Unzulänglichkeiten. Der Buddha ist nicht länger der „Erwachte“, ein Wesen ganz eigener Natur und verehrungswürdiges Vorbild, sondern auf dem Wege zu einer nieveauvollen Life-Style-Ikone.

Religion

Säkular meint, als „Mensch ganz und gar in dieser Welt zu leben“ und unterstellt, dass der „Buddhismus nie als Religion gemeint gewesen sei, sondern eher als eine neue Zivilisation und Kultur, die im Laufe der Zeit zu einer Religion mutiert sei“. Folglich muss Batchelor den buddhistischen Lehren ihren religiösen Charakter nehmen.

Ich verstehe, wenn Buddhistinnen und Buddhisten ein prüfendes Auge auf die Religionen werfen, die eigene eingeschlossen. Ich stimme der Kritik durchaus zu, wenn sie die Verwandlung einer ursprünglich befreienden spirituellen Bewegung in hierarchische kirchliche Organisationen brandmarkt; wenn sie beanstandet, dass Religion zum Hort von starren, überholten, menschenfeindlichen Dogmen degeneriert oder ihr hauptsächliches Interesse materiellen Pfründen, Macht und Einfluss gilt. Aber warum gleich das Kind mit dem Bade ausschütten?

Der säkulare Buddhismus will mit Fortexistenz und Wiedergeburt nichts im Sinn haben: „Die Idee der Reinkarnation passt nicht in unseren heutigen Bezugsrahmen.“ Also entfällt sie kurzerhand. Gestrichen wird außerdem, was der Buddha selbst als das letztendliche Ziel der spirituellen Praxis und die Besonderheit des Buddhismus bezeichnet hat: Nirvana. Ein weiteres Kernstück des Buddha-Dhamma – die Anatta-Lehre, die Lehre von der Ich- bzw. der Substanzlosigkeit aller Phänomene – bleibt auf der Strecke, sie taucht gar nicht mehr auf. Und von den Vier Heilenden Wahrheiten genügt Batchelor im Grunde eine einzige, die vierte.

Ein solcher Ansatz, den Dhamma auf eine weltlich-vordergründige Ebene zu reduzieren und sich mit einem ethischen Anspruch (gegebenenfalls gepaart mit Achtsamkeit für den gegenwärtigen Augenblick) zu begnügen ist nicht neu. Der Buddha schon hat seinen Zeitgenossen und Schülern, die ähnlich dachten, die deutlichen Worte ins Stammbuch geschrieben: „So verhält sich jemand, der im Wald massives Holz zum Bauen sucht, aber sich mit Blättern, Ästen und der Rinde eines mächtigen Baumes zufriedengibt.“ (Majjhima Nikaya 29)

Die Lehren des Buddha haben durchaus eine religiöse Dimension. Sie beinhalten etwas, das jenseits der fünf äußeren Sinne, jenseits des Mess- und Wägbaren, des Banal-Vordergründigen zu finden ist, aber deshalb keineswegs weniger real ist. Fortexistenz und Wiedergeburt, die karmischen Zusammenhänge und der gesamte Bereich der Mystik sind nicht etwas jenseits aller Wirklichkeit, sondern etwas jenseits der uns momentan zugänglichen und erfahrbaren Realität.

Es mag ja sein, dass wir zu diesem „Transzendenten“ keinen unmittelbaren persönlichen Bezug (mehr) haben und es außerhalb unserer eigenen Lebenswirklichkeit liegt. Darf man aber die eigene Blindheit zum Maßstab machen? Haben nicht alle Religionsgründer und spirituellen Größen stets genau das betont: dass sie weiter blicken und mehr sehen als das, war vor Augen liegt? Ist es nicht ihr übereinstimmender Rat, Vertrauen in das Vorhandensein des ganz anderen zu setzen und einen Weg zu gehen, der das Unbekannte zu etwas Erfahrbarem macht; der aus Vertrauen auf etwas schließlich das Wissen von etwas entstehen lässt? Es wäre fatal, die uns gegebenen geistigen Entwicklungsmöglichkeiten zu ignorieren und gewollt auf dem menschlichen Klein-Klein zu beharren.

Resümee

Ja, Menschen brauchen Antworten auf ihre aktuellen Fragen und das in einer Sprache, die sie verstehen. Und sie brauchen konkrete Hilfen, damit sie ihren gegenwärtigen Herausforderungen besser begegnen können. Aber wenn Batchelor vorschlägt, „dem Rahmen des Achtfachen Pfades entsprechend zu leben und danach zu streben, darin als Mensch voll zu erblühen“ bzw. „die Struktur unserer Welt zu verändern“, ist das bei weitem nicht genug. Nicht genug jedenfalls für den, der spürt, dass es mehr gibt als die enge Bewusstseinsblase unseres Hier und Jetzt; nicht für den, der das Dasein selbst als Gefangenschaft empfindet und heraus will. Heraus nicht nur aus akuten Drängen und Nöten, sondern aus jeder Unfreiheit. Und solche Suchende hat der Buddha vor allem belehrt, weil er den Ausgang gefunden hat und anderen zeigen konnte.

Das von Batchlor in Aussicht gestellte „neue Betriebssystem“, das den in die Jahre gekommenen Buddhismus gleichsam updaten soll, ist in Wirklichkeit ein Deinstallationsprogramm, das den Dharma auf der Festplatte der Weisheit löscht. Am besten also nicht anklicken.  ■

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Über den Autor

Dr. Alfred Weil, Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Politik. Seit 1979 intensive Auseinandersetzung mit den (ursprünglichen) Lehren des Buddha. 1993–2001 Vorsitzender, seit 2003 Ehrenrat der Deutschen Buddhistischen Union (DBU); 1990–2002 Mitherausgeber und Redakteur der Lotusblätter. Vortrags- und Seminartätigkeit, Veröffentlichungen in Zeitschriften, Autor und Herausgeber mehrerer Bücher.

www.alfred-weil.de

Copyrights

Veröffentlicht in: „Buddhismus aktuell“ / Ausgabe 3/2013, S.60–62
Mit freundlicher Genehmigung von Alfred Weil und Buddhismus aktuell.