Missbrauch und Buddhismus: Hinter der lächelnden Fassade

Anna Sawerthal

Seit Jahrzehnten genießt der Buddhismus im Westen einen Ruf, der zu gut ist, um wahr zu sein. Endlich beginnen Opfer über sexuellen Missbrauch, Machtmissbrauch und sektiererische Vereinigungen zu reden.

Es hat Jahre gedauert, bis er eine Mücke töten konnte. Wenn er nachts vom Surren einer Mücke aufwachte, stand er widerwillig auf, holte ein Glas, fing das Tier lebend und lies es durch ein Fenster frei. Es war einfach in Bens System eingespeichert, dass man jedes Lebewesen so behandeln soll, als wäre es in einem anderen Leben die eigene Mutter gewesen. Denn er wurde „buddhistisch“ erzogen, im Süden Frankreichs in Nyima Dzong. Nyima Dzong ist tibetisch und heißt „Sonnenburg“. Das war’s dann aber auch mit den tibetischen Dingen. Mit Buddhismus hat der Ort nichts zu tun.

Zur Strafe mussten die Kinder, die in den 80ern in der Sonnenburg aufwuchsen, 108 Niederwerfungen im Schnee machen oder bei jedem Wetter um den Haupttempel laufen. Wenn Ben während der Rezitationen im Tempel einschlief, wurde er vom Lehrer verprügelt. Sieben Tage die Woche mussten die Kinder, ohne Pausen, Hausarbeiten verrichten und lernen, den Guru vor ihrem inneren Auge zu visualisieren. Seinen schmächtigen Körper, die spitze Nase und das schmale Kinn.

Château-de-Soleils at Castellane

Nyima Dzong – „Sonnenburg“ (Château-de-Soleils at Castellane)

Robert S. ist sein Name. Ab 1972 hüllte sich der Belgier in rote Mönchsroben, nach einem angeblichen Aufenthalt in Indien. Sein neuer Name war Lama Ogyen Kunzang Dorje. Nach seiner Rückkunft pilgerten immer mehr Leute zu ihm. Ende der 1970er gründete er die buddhistische Gemeinschaft „Ogyen Kunzang Choling“ (OKC) mit Sitz in Brüssel und kaufte die verfallene Burg in Südfrankreich, in der die Kinder der wachsenden Anhängerschaft erzogen werden sollten. 300 bis 400 Mitglieder zählte die Gemeinschaft in ihren guten Zeiten.

Ben war dreizehn, als ihn die Erzieher nach Portugal brachten, in ein neues Zentrum, wo er und andere Jugendliche vier Jahre lang, vollkommen abgeschirmt vom Rest der Welt, zur Elite der Menschheit erzogen werden sollten. Denn der Guru wollte, dass die nächste Generation fit für die drohende Apokalypse gemacht würde, ohne störende Einflüsse von außen. Karate-Training, 10-Kilometer-Lauf und Holzfällen standen in Portugal am Tagesplan. Zeitung lesen war streng verboten, geschult wurden sie von ein paar Erziehern. „Wir haben mit eigenen Händen das Wohnhaus des Gurus gebaut“, erzählt Ben.

Er lacht verzweifelt, wenn er an die Momente zurückdenkt, in denen die Mädchen ins neue Haus des Gurus geholt wurden. „Wir dachten damals bloß: Was muss man tun, um vom Guru eingeladen zu werden?“ Heute weiß er, dass er das Haus gebaut hat, in dem seine Freundinnen missbraucht wurden.

Lama Ogyen Kunzang Dorje (Robert S.)

Lama Ogyen Kunzang Dorje (Robert S.)

Fast alle Eltern lebten währenddessen in Brüssel, wo sie unvergütet in vegetarischen Restaurants und Bioläden arbeiteten, die der OKC gehörten – im festen Glauben, am Weg der Erleuchtung zu sein. Sie vertrauten ihrem Guru, Robert S., Zweifel unterdrückten sie, denn OKC war ihr Leben, alles, was sie hatten. Über die Jahre sind die Leute vollkommen abhängig geworden, nicht nur mental, sondern auch ganz praktisch, erzählt Ben. Robert S. kam für ihren Lebensunterhalt auf. Sie trafen kaum mehr Entscheidungen ohne seinen Zuspruch.

Auf der Suche nach Sinn

In den 1970ern zogen Zigtausende los, um die Zwänge des alten Europas hinter sich zu lassen. Sie begaben sich auf eine spirituelle Suche nach alternativen Lebensweisen. In Asien und Europa trafen sie auf exotische Gurus, also spirituelle Lehrer, die ihnen neue Perspektiven gaben. Leider waren manche der Gurus nicht das, was sie vorgaben zu sein. Dass die Sinnsuchenden leicht Opfer von Missbrauch wurden, merkten viele – wenn überhaupt – erst viel zu spät.

Zwischen 250 und 500 Millionen Buddhisten gibt es laut Schätzungen heute weltweit. In Österreich sind es derzeit rund 30.000, schätzt die Österreichische Buddhistische Religionsgemeinschaft (ÖBR). Die Zahl der Menschen die der ÖBR offiziell jährlich beitreten, steigt leicht an. Die tatsächliche Zahl derer, die sich dem Buddhismus nahe fühlen, ist wohl um ein Vielfaches höher.

Für viele ist der Buddhismus eine heilsame Alternative zum Christentum. Nicht ein einziger Gott bestimmt den Lauf der Welt, sondern der Mensch selbst ist Ursache und Wirkung seines Daseins. Ben ist heute Mitte dreißig und kann dem Buddhismus trotz allem Positives abgewinnen. Er weiß, dass das, was er als Kind, als Jugendlicher, durchgemacht hat, nichts mit dem Kern der Religion zu tun hat. Er weiß, dass seine Eltern, die Eltern der OKC-Kinder, in ihrem Bedürfnis nach dem guten, richtigen Leben, auf Abwege geraten waren.

Sexueller Missbrauch

Livia war 14, als sie Robert S. zur Tempelpflegerin in Nyima Dzong ernannte. Sie dachte, das sei eine Ehre. Sie ist ein paar Jahre älter als Ben und kam mit ihrer Mutter Ende der 70er nach Nyima Dzong. Livia bekam einen Raum neben dem Tempel zugewiesen, in der Nähe von Robert S. Untertags putzte sie die goldenen Opferschalen und polierte die Statuen. In der Nacht wurde sie von Robert S. heimgesucht. Wenn der Guru mit ihr auf längere Wochenenden fuhr, sagte niemand der Erwachsenen etwas, nicht einmal ihre Mutter.

In Nyima Dzong wurden die Menschen indoktriniert, alles positiv zu sehen:  Den Hunger, die körperlichen Strapazen, den Missbrauch. Negative Gedanken seien Anzeichen eines getrübten Geistes. Nur Robert S. hätte den Zugriff auf die wahre Realität. Er berief sich auf tibetische Lehrer, bei denen er angeblich in Indien studiert hatte. Verschiedene tibetische Lehrer brachten ihm Legitimation, indem sie OKC besuchten – bis heute. 1990 kam der Dalai Lama ins Zentrum in Brüssel. Seit 1991 war OKC unter der spirituellen Leitung von Shechen Rabjam und Pema Wangyal, zwei wichtigen Lehrern. Damals gab es schon etliche Opfer sexueller Gewalt.

Um mit dem Missbrauch umzugehen, meditierte Livia damals. Sie stellte sich vor, dass der Raum in ihrem Kopf ein weites, leeres Feld sei. „Am Rand des Feldes habe ich mir aber einen riesigen Felsen vorgestellt.“ Wenn sie im Freien war, durfte sie nur Gutes über Robert S. und die Gruppe denken. Doch wenn sie sich hinter dem Felsen versteckte, durfte sie denken, was sie wollte. Der Rest ihres Gehirns würde nichts davon wissen, weil sie sich ja versteckt hielt. Somit würde sie kein schlechtes Karma generieren. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber es hat für mich funktioniert“, sagt Livia.

Kein Einzelfall

Man möchte glauben, dass OKC ein schrecklicher Einzelfall ist, ein Mahnmal des Versagens aller Instanzen – Familie, Freunde, Justiz. Leider ist OKC ist ein extremes Beispiel eines lang überschauten Problems: Missbrauch im Namen des Buddhismus. Tenzin Peljor nennt im Handumdrehen neun Fälle von Vorwürfen aus der jüngeren Vergangenheit in Europa. Tenzin ist in Deutschland als Michael Jäckel geboren und wurde 1998 tibetisch-buddhistischer Mönch. Er meint, dass er selbst anfangs in Sekten gelandet war. Vier Jahre dauerte sein Lösungsprozess. Seitdem setzt er sich für eine offene Debatte über Probleme in buddhistischen Gemeinschaften ein. Drei der von ihm genannten Fälle beziehen sich auf Deutschland.

Rob Hogendoorn, niederländischer Citizen-Journalist und seit Jahrzehnten Buddhist,  bearbeitet momentan 20 Dossiers, die sich mit Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs in den Niederlanden beschäftigen. Es gibt in den Niederlanden 39 anerkannte buddhistische Organisationen, zu fast der Hälfte der Leiter der Organisationen hätten sich Betroffene mit Anschuldigungen an ihn gewandt.

Den Schleier des Schweigens heben

Bisher hat kaum jemand über diese „Einzelfälle“ gesprochen. Zu gut ist der Ruf des Buddhismus, zu beschämend das Eingeständnis, dass im Buddhismus nicht alles viel rosiger ist als im Christentum. Dass nun doch immer intensivere Debatten stattfinden, in der Facebookgruppe „Open Buddhism“ etwa, liegt an einem der berühmtesten tibetisch-buddhistischen Lehrern im Westen: Sogyal Lakar. Mit dem 1992 erschienenen Buch „The Tibetan Book of Living and Dying“ eroberte er die Herzen eines Millionenpublikums. Das verschaffte ihm und seiner internationalen Organisation Rigpa („Wissen“) große finanzielle Ressourcen und Macht.

Im Juli erhoben acht seiner engsten Schüler in einem geleakten Brief schwere Vorwürfe gegen Sogyal. „Unser Wunsch ist es, den Schleier des Schweigens, der Irreführung und des Betrugs zu heben“, steht darin. Sie berichten von schwerer körperlicher und psychischer Gewalt und von sexuellem Missbrauch an Frauen. Der Brief ist ein Gewaltakt an Widerstand – für manche nach über zwanzig Jahren Indoktrination und Unterwerfung. Sogyal habe die Gewalt als „zorniges Mitgefühl“ oder als „geschicktes Mittel“ gerechtfertigt. „Wir glauben nicht mehr, dass das der Fall ist“, steht immer wieder in dem Brief.

Sogyal Lakar Rinpoche

© Olivier Riché | Sogyal Lakar Rinpoche Vortrag in Dzogchen Beara | CC BY-NC 2.0

Oane Bijlsma, eine ehemalige Rigpa-Anhängerin mit Zugang zum „innersten Kreis“ um Sogyal, berichtet, wie der „Meister“ mit seinen Schülern Besprechungen hielt, während er am Klo saß und kackte. „Er macht das bei offener Tür, während er da sitzt, stinkt und Verstopfung hat.“ Regelmäßig schlug er seine Schüler und meinte dazu, dass eine Umarmung ein Segen sei, aber ein Schlag ein noch größerer. „Sogyal glaubt tatsächlich an diesen Mist“, sagt Oane. „Er denkt wirklich, er sei ein allmächtiges Wesen.“

Sie kennt die jungen, schönen Frauen des „inneren Kreises“, die ihm rund um die Uhr zur Verfügung stehen, weil sie fast selbst eine von ihnen wurde. Sie weiß, dass er Frauen dazu nötigt, vor ihm zu strippen, während sein männlicher Assistent daneben sitzt und zuschaut. Oane fasst den innersten Kreis von Rigpa so zusammen: „Es ist wie eine dysfunktionale, inzestuöse Familie mit schweren sado-masochistischen Tendenzen, die aber kein Safeword hat.“

Manche meinen, tibetischer Buddhismus wäre besonders anfällig für diese Art von Missbrauch, weil es Geheimlehren gibt, die im Vertrauen zwischen einem Lehrer und Schüler praktiziert werden sollen. Tenzin Peljors und Hogendoorns Arbeit zeigt, dass Vorwürfe aber in allen Strömungen vorkommen. Im Juli wurde der Zen-Lehrer Genpo D. am Augsburger Landgericht erstinstanzlich zu acht Jahren Haft verurteilt, nachdem er den sexuellen Missbrauch an sieben minderjährigen Burschen zugegeben hatte.

Sowohl OKC als auch Rigpa bereichern sich an der absoluten Hingabe ihrer Mitglieder. Ein gravierender Unterschied zwischen den zwei Organisationen ist, dass in OKC Kinder in eine Gruppe geboren wurden, die sie sich nie ausgesucht haben. Bei Rigpa handelt es sich meistens um Erwachsene, die eine „Wahl“ treffen. Doch wie kann es soweit kommen, dass man diese „Wahl“ trifft? Kann man überhaupt von freiwilliger Wahl sprechen?

Die Egozentriertheit überwinden

Grundsätzlich wird das Ego als Hauptquelle allen Leidens im Buddhismus identifiziert. Wenn man Erleuchtung erlangen will, muss man die Egozentriertheit aufgeben. Das heißt nicht, dass man den Verstand ausschalten soll. Man soll ihn viel eher dazu benutzen, um die Flüchtigkeit und Bestandslosigkeit der Dinge zu verstehen. Im Vajrayana-Buddhismus, auch Tantrismus genannt, der vor allem in Tibet praktiziert wurde, gibt es außerdem die Möglichkeit, mit unkonventionellen Übungen besonders schnell die Erleuchtung zu erlangen.

Weil das ein schwieriger Prozess ist und diese esoterischen Lehren nur in direkter Übertragung an den Schüler weitergegeben werden dürfen, sollte man das unter Anleitung eines Lehrers machen. Und hier läuft ein Neuling Gefahr, vollkommen abzudriften. Denn wenn man sich auf einen Guru einlässt, dann anerkennt man implizit, dass der Guru die Realität in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit erkennt, man selbst aber aufgrund der spirituellen Unreife nur eine falsche Wahrnehmung der Realität hat. Dieses Bündnis wird durch Gelübde verankert. Fehlt hier beim Lehrer Integrität, wirkt sich dies verheerend aus.

Der Lehrer bedient sich unterschiedlicher Methoden, um den Schüler spirituell voranzutreiben. Wenn der Guru keine zölibatären Gelübde abgelegt hat, können dazu sexuelle Praktiken gehören. Diese „tantrischen“ Praktiken sind streng rituell abzuhalten und nur den Lehrern vorbehalten, die diese Lehren zuvor in einer Ermächtigung von ihrem Lehrer erhalten haben. Auch der Schüler muss eine fundierte, langjährige Grundausbildung hinter sich haben, um die Vajrayana-Lehren im Kontext des buddhistischen Pfads einordnen zu können. „Wenn du keinen Apfel vom Baum fallen lassen UND ihn wieder hinauffliegen lassen kannst, dann kannst du diese Praktiken nicht machen“ , fasst die amerikanische buddhistische Nonne Thubten Chodron die Situation zusammen.

Sex als Mittel zur Erleuchtung: Tantra und Dakinis

Sogyal stützt sich in seiner Auslegung auf tibetische Legenden von „Verrückten Yogis“, die durch unkonventionelle tantrische Methoden in nur einem Leben erleuchtet wurden und anderen die Erleuchtung gelehrt haben. Sogyal hätte 1995 einer Frau, dessen Vater gerade gestorben war, gesagt, dass Sex mit ihm dem verstorbenen Vater helfen würde erleuchtet zu werden, so Tenzin Peljor. Irgendwann sagte Livia zu Robert S., dass sie die sexuellen Handlungen nicht wolle. Er erklärte, dass diese aber wichtig für ihre Erleuchtung wären. Ihr Einwand, dass sie dann lieber nicht erleuchtet sein will, hatte kein Gewicht.

Sangharakshita, Dennis Lingwood, Triratna founder - FWBO

Sangharakshita (Dennis Lingwood) – Gründer von Triratna (vormals FWBO)
© Tathaataa | CC BY 3.0

In dieser Logik werden die sexuellen Handlungen als spirituelle Tests dargestellt. Wer sich dagegen wehrt, ist scheinbar nicht auf dem Weg zu Erleuchtung. Mark Dunlop, langjähriger Anhänger der buddhistischen Vereinigung Triratna erklärt in einem Blog-Eintrag, dass sein Lehrer Sangharakshita ihm den Weg zur Erleuchtung so erklärt hat: „Wenn ich spirituellen Fortschritt machen wollte, müsste ich die unterbewussten anti-homosexuellen Konditionierung durchbrechen.“ Wie? Indem er Sex mit ihm hatte.

Oft wird mit der Idee der „Dakini“ geworben: engelhafte Wesen, die in den Visionen von Meistern vorkommen sollen. Diese Musen-artigen Gestalten haben große Wirkungskraft darin, einen Mann zu inspirieren. Sogyal nannte seine sieben bis acht Frauen im innersten Kreis Dakinis, Livia erzählt, dass Robert S. sie Dakini nannte. Mark Dunlop erzählt, dass Sangharaksita meinte, er sei ein „daka“, also die männliche Form davon.

Der Weg zur Selbstentleerung

„Du bist etwas ganz Besonderes“, flüsterte Sogyal Oane einmal ins Ohr. Jetzt verzieht sie das Gesicht, wenn sie daran denkt, aber damals konnte sie es nicht einordnen. Sie war damals in einer persönlichen Krise, auf der Suche nach Halt. Bei Oane kam es nicht zum Äußersten, aber bei vielen anderen Frauen schon. „Der Druck von emotional bedürftigen Persönlichkeiten, Heilung durch Zuwendung zu finden, ist groß. So wird der Verstand immer weiter ausgehebelt. Schritt für Schritt werden Grenzen überschritten, bis der Guru sagt ‚Zieh dich aus‘“, erklärt Tenzin Peljor.

„In dir schreit es, ‚nein, nein‘, aber du denkst: Das ist ein Test. Wenn ich den Test nicht bestehe, dann kann ich nicht Erleuchtung erlangen. Alle haben gesagt: Das brauchst du, um zu erwachen und du willst nicht versagen. Und das bringt dich dann soweit, dass du den Missbrauch zulässt.“

Livia erzählte ihrer Mutter nichts vom Missbrauch. Scham war einer der Gründe, meint sie, und die Forderung nach Geheimhaltung. Aber auch Angst. Angst davor, dass sie die Bombe platzen lassen würde, und nichts passieren würde. Heute kann sie sich das Verhalten ihrer Mutter und Erwachsenen nur so erklären, dass sie hypnotisiert waren. Ben berichtet, dass ein Mädchen in Nyima Dzong vom Missbrauch erzählt hätte. Aber die Erwachsenen meinten, es seien nur die „Visionen eines unreinen Geistes“.

Der Druck zu gehorchen komme nicht ausschließlich von oben, bestätigt Ben: „Der echte Druck kommt von der Seite.“ Die Ethnologin Marion Dapsance schrieb ihre Doktorarbeit über die betrügerischen Machenschaften von Rigpa. Als sie während ihrer Forschung in einer Rigpa-Diskussionsgruppe Skepsis über Sogyals Lehren äußerte, wurde sie bezichtigt, dass sie wohl keine „Verbindung“ mit ihm hätte.

„Durch die Idealisierung bekommt der Täter eine Macht. Die Menschen sind dazu bereit, alles zu tun, was er sagt“, erklärt Fatma Altzinger, Psychotherapeutin und Ansprechperson für sexuelle Gewalt der Ombudsstelle der ÖBR. Die ÖBR richtete die Stelle 2003 im Zuge der Missbrauchsdebatte um die katholischen Kirche ein. Nach Angabe von Altzinger meldete sich seit Gründung nur eine Person, deren Aussage widersprüchlich bis unglaubwürdig erschien. Daher gab es keine Prozessbegleitung. „Es ist eine Selbstentleerung. In der Massenpsychologie wird das als starke Identifizierung mit dem Führer erklärt. Alles, was er will und macht, ist gut. Dann ist es nicht möglich, sich gegen ihn zu wehren.“

Buddhistischer Fundamentalismus: Wunsch nach einem Führer

Ben hat den schwierigen Weg aus OKC geschafft. „OKC sind Menschen, die das Lenkrad ihres Lebens in die Hand von Serien-Missbrauchstätern geben“, sagt er heute. Heute setzt er sich in Brüssel für Basisdemokratie ein, für die Überzeugung über die Mündigkeit jedes einzelnen Menschen. Denn Ben sieht den Anstieg von kultischen Gurus als Zeichen eines allgemeinen Verfalls der Demokratie. Ob nun Robert S., Sogyal, Trump über Orban: „Alle fallen in diesen Wahnsinn, ohne ihren kritischen Verstand zu benutzen!“ Die buddhistische Karma-Theorie sollte bei der Selbstverantwortung überhaupt nicht im Weg stehen, meint Ben. Alles was man tut und denkt, hat Konsequenzen. „Das kann sehr nützlich sein. Aber es kann auch Menschen zurückhalten, weil sie Angst vor ihrem Karma haben.“

Problematisch wird Religion, wenn Mythen auf die Realität angewandt werden, erklärt Ethnologin Dapsance. Dakinis, Legenden, das Ende der Welt: Mythen werden für bare Münze genommen und damit ethische Grundsätze in Frage gestellt und manchmal sogar Gesetze gebrochen. Oane nennt es das „Harry Potter-Syndrom“, also die tiefe Sehnsucht nach unwissenschaftlicher Magie. Auch Fake News und Verschwörungstheorien seien Teil davon. „Ich war auf der Suche nach Weisheiten, aber vor mir war dieser lächerliche Mann, der ganz ähnlich wie Trump agierte. Er lobt Menschen in der gleichen Weise, und schimpft und demütigt sie in der gleichen Weise.“

Auch Oane sieht so Parallelen zwischen buddhistischen und politischen Führerfiguren. Aus einer Orientierungslosigkeit entsteht der Wunsch nach Führung – ein fruchtbarer Nährboden für fundamentalistische Ideen. Der Buddhismus, der im Westen einen ausgezeichneten Ruf genießt, bietet sich in so einem Moment als passenden Ort der Zuwendung an.

Zu guten Ruf

Anders als der Islam etwa hat der Buddhismus im Westen nicht mit Verhetzung zu kämpfen, sondern mit positiven Vorurteilen, attestiert Tenzin Peljor. Er stützt sich auf eine Aussage des Lehrers Dagyab Rinpoche, der seit 1966 in Deutschland lebt. Der Tibeter schrieb vor einigen Jahren, dass „die positiven Aspekte des überlieferten Tibetbildes sich bei der Verbreitung des Buddhismus auf die Dauer eher als nachteilig erwiesen haben.“

Der Mythos vom magischen Paradies am Dach der Welt, wo erleuchtete Wesen, spirituell den Europäern überlegen, leben würden, wo jahrtausendealte Weisheiten aufbewahrt werden, hält sich in Europa hartnäckig. Dagyab Rinpoche wies darauf hin, dass das Festhalten am Mythos mehr über den Zustand der westlichen Gesellschaft aussage als über den Buddhismus selbst.

Menschen wie Sogyal, Robert S., und andere spielen mit dem mangelnden Wissen der Westler. Sie nutzen die Naivität über und Faszination für den Buddhismus aus, um ihre eigenen, weltlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Leute, die Hogendoorn kontaktieren, erzählen oft furchtbare Geschichten und fragen dann: „Ist das normal? Ist das im Buddhismus so?“

Von Seiten der buddhistischen Organisationen, auch der vielen, die sehr gute Arbeit leisten, gibt es wenig Interesse, die Fälle aufzuklären. „Sie haben Angst, dass die Menschen denken, dass alle Buddhisten Missbrauchstäter sind“ , sagt Hogendoorn. Die Europäische Buddhistische Union (EBU) wurde etwa um Stellungnahme gebeten, allerdings ohne Rückmeldung. Bei wem liegt denn die Verantwortung? Beim Guru? Beim Schüler? Bei der Gemeinschaft? Bei den Medien?

Wer ist schuld?

Juristisch ist sexueller Missbrauch von Minderjährigen recht leicht definierbar. Bei erwachsenen Personen ist die Situation komplizierter: sie willigen „freiwillig“ in Sex ein. Psychologin Altzinger sagt: „Bei Kindern ist inzwischen klar, dass man nicht von Wollen und Wissen des Kindes ausgehen kann. Aber im erwachsenen Bereich ist die graue Zone groß.“ Laut Altzinger kommt es dann auf den Richter und die Glaubwürdigkeit der Frau an, wie entschieden wird.

Tenzin Peljor macht außerdem auf die juristische Grauzone bezüglich Heilpraktikern aufmerksam. „Ein zertifizierter Psychotherapeut hat ganz klare Richtlinien. Er darf keinen Sex mit Klienten haben. Bei Heilpraktikern mögen gewisse Dinge klar unmoralisch sein, aber juristisch nicht zu handhaben.“ Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Lehrer viel reisen, etwaigen Straftaten werden in verschiedenen Ländern begangen, einen guten Fall zusammenzutragen braucht viel Energie, Wissen, Zeit und Geld.

Reaktionen von Buddhistischen Leadern: Der Dalai Lama und Co.

Für viele kamen Reaktionen auf Sogyals Verhalten von buddhistischen Lehrern und Organisationen zu zaghaft, gar nicht oder erst recht mit erschütternden Aussagen: Hoch angesehene tibetische Lehrer haben die Anschuldigungen gegenüber Sogyal teils mit Bezug auf die alten Legendengeschichten relativiert. Dzongsar Khyentse sorgte für Irritation, weil er per Facebook einen „Sex-Vertrag“ für Lehrer und Schüler zusammenstellte. Orgyan Topgyal wiederum beschuldigte die missbrauchten Schüler, ihre Gelübde gebrochen zu haben.

Andere haben sein Verhalten aber klar kritisiert und bauen Argumentationen auf, um „Legenden“ mit einer heutigen Ethik zu vereinen, so wie etwa die oben erwähnte Nonne Thubten Chodron. Diese Ansätze bleiben aber recht lose. Anders als in der katholischen Kirche, gibt es im Buddhismus keine klaren Hierarchien. Tibetischer Buddhismus ist anders als Zen-Buddhismus, und in den jeweiligen Lehrsystemen gibt es wieder unzählige Strömungen, die nicht hierarchisch zueinander stehen, sondern im Austausch. Es gibt keine übergeordnete buddhistische Instanz, keinen buddhistischen „Papst“.

Nichtsdestotrotz hören viele besonders auf den Dalai Lama, dessen langes Schweigen viele empört hatte – denn erste Vorwürfe gegen Sogyal wurden bereits 1981 erhoben. 1994 drohte eine Frau, ihn zu verklagen, sie einigten sich dann aber außergerichtlich. Die Journalistin Mary Finnigan berichtete bereits Mitte der 90er im britischen Guardian über den Fall. Trotzdem erschien über Jahre hinweg in Sogyals Buch ein Vorwort des Dalai Lama. Im September hat der Dalai Lama aber klare Worte gefunden und nannte Rigpa „verdorben“. „Der Name der Religion wurde als Instrument zur Ausbeutung verwendet.“ Ende September sagte er, dass Sogyal seine Schüler missbraucht habe und dass es solche Fälle auch in Taiwan und in Tibet gäbe.

Was passiert mit den Gurus?

Nach Veröffentlichung des Briefes trat Sogyal als spiritueller Direktor von Rigpa zurück und kündigte an, in „Retreat“ zu gehen, also sich für einige Zeit zur intensiven Meditation zurückzuziehen. Wo er sich nun aufhält, ist nicht bekannt. Ein Anwalt in Frankreich sammelt nun Zeugenaussagen gegen ihn. Die Organisation Rigpa hält sich bedeckt, Journalisten-Anfragen wird aus dem Weg gegangen. In Österreich hat Rigpa drei lokale Gruppen. Auf Anfrage reagierte bloß die Wiener Gruppe und verwies auf die Stelle in Berlin, nachdem „unsere österreichische Gruppe an die deutsche Organisation angeschlossen ist“. Die Berliner Stelle hat sich trotz mehrfacher Anfrage nicht rückgemeldet.

Seit 1997 läuft gegen Robert S. ein Verfahren in Belgien, seitdem Livia und andere Anklage erhoben hatten. Doch die belgische Justiz mahlt langsam. Neue Anschuldigungen wurden den Akten über die Jahre beigefügt, doch nichts passierte.  Erst als 2015 Ben die Zügeln in die Hand nahm und alle Kräfte mobilisierte, kam wieder Fahrt in den Prozess. Die Anklage beinhaltete über 170 Straftaten: darunter Kidnapping von Kindern, Folter, sexueller Missbrauch, Betrug, Dokumentenfälschung, Geldwäsche, Steuerhinterziehung.

Im September 2016 wurde Robert S. in Brüssel erstinstanzlich in Abwesenheit zu vier Jahren auf Bewährung verurteilt. Der mittlerweile 76-jährige kam aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Anhörung. Er sitzt in Spanien in seiner Villa, erzählt Ben, und schickte acht Anwälte. Die Anklägergruppe konnten ihren Anwalt mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne 12.000 Euro überweisen, den Rest machte der Anwalt gratis. Trotz des geringen Strafmaßes ging Robert S. in Berufung. Fast zwanzig Jahre sind seit den ersten Anklagen vergangen und kein Ende ist in Sicht. Wie lang es bis zur Berufungsverhandlung dauert, ist ungewiss.

Ben hat einen schmerzhaften Prozess hinter sich. Er musste aus einem Gefängnis, das ihm als Kind in den Kopf gesetzt wurde, ausbrechen, ohne Perspektiven, ohne Geld, ohne Sozialversicherung und ohne fundierte Bildung. Vielen „Ehemaligen“ geht es genauso. Alles Geld, das sie hatten, haben sie an OKC gespendet, Erspartes gibt es nicht.

Altzinger erklärt, dass man sich dann lösen kann, wenn man mit Hilfe anderer Beziehungen eine Relativität herstellt. Die eigenen Grenzen müssen wieder wahrnehmbarer werden. Oane begab sich dafür nach dem Austritt aus Rigpa in Therapie. Livia meint, für sie war es wichtig, Robert S. 1997 vor Gericht ins Gesicht zu blicken. Für Ben hat der Prozess 2016 viel verändert: „Wenn eine Mücke heute den Schlaf meines Kindes stört, erschlage ich sie. Ich denke mir: Dieser Typ hat hunderte Menschen missbraucht. Ich werde nicht in die Hölle kommen, nur weil ich eine Mücke erschlagen habe.“

Ornament

Anna Sawerthal

Anna Sawerthal arbeitet als Journalistin in Wien. Sie studierte Tibetologie und Buddhismuskunde in Wien, Katmandu und Lhasa, und Journalismus in Wien. Sie promoviert über die tibetisch-sprachige Pressegeschichte an der Universität Heidelberg, im Rahmen des Exzellenz-Clusters „Asien und Europa im globalen Kontext“.

Contact: anna@sawerthal.at

© Anna Sawerthal

Dieser Text erschien in einer kürzeren Version im österreichischen Monatsmagazin Datum 11/2017 “Auch du, Buddha?” | www.datum.at.

Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin.

Titelbild: © Michael A.

Journalistische Arbeiten

Akademische Arbeiten

  • “Foreign News in Early Tibetan-Language Newspapers: Covering Adolf Hitler in the Melong”, Revue d'Etudes Tibétaines 37(2016): 315-334. (PDF)
  • "Eine Zeitung für Tibet: Der yul phyogs so so'i gsar 'gyur me long (1925-1963)", medien & zeit 2 (2016): 58-67. (Abstract)

In Kürze erscheinend

  • “The Round World in Early Tibetan-language Newspapers”, forthcoming in the proceedings of the international conference "Issues of Far Eastern Literatures" in St. Petersburg (June 25-29, 2015).
  • “The Newspaper as a Prophecy: Transformations of a Global Genre”, forthcoming in the proceedings of the conference “The Tibet Mirror – A Tibetan Newspaper in Kalimpong: Current Researches and Perspectives” in Paris (November 17-18, 2016).
  • “Imagining the Wild Man. Yeti Sightings in Folktales and Newspapers of the Kalimpong Hills” (together with Davide Torri), forthcoming in Viehbeck, Markus [ed.]: Transcultural Encounters in the Himalayan Borderlands: Kalimpong as a “Contact Zone”.

Mehr über OKC / Nyima Dzong / Robert S.

Mehr über Sogyal Rinpoche / Rigpa

Mehr über Triratna / Sangharakshita (Dennis Lingwood)

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