Verantwortung tragen und sich auf Augenhöhe begegnen

Einige Gedanken zu unmoralischem Verhalten von prominenten buddhistischen Persönlichkeiten

S. E. Dagyab Rinpoche und Norden Dagyab

Vorwort: Viele von uns arbeiten seit mehr als 35 Jahren mit dem hohen tibetischen Tulku, Tibetologen und spirituellen Leiter des Tibethauses Dagyab Rinpoche zusammen. Er hat von Beginn seiner Zusammenarbeit an gewarnt vor den negativen Folgen der Guru-Verehrung hier im Westen, der Projektion auf den Lehrer als Vater-, Therapeut- oder gar Partnerersatz.¹

Seine Schüler/innen kennen sehr gut seine übliche Art und Weise, Unterweisungen mit „Wir Anfänger…“ zu beginnen. Immer wieder betont er, dass buddhistische Lehrer und Lehrerinnen absolut keine „gottähnlichen Wesen“ seien, sondern Menschen mit menschlichen Schwächen. Er lehnt die weit verbreitete Sichtweise, dass man den eigenen Lehrer – weil es sich im indotibetischen Kulturkreis so „eingebürgert habe“ − automatisch als Buddha ansehen solle, vehement ab. Natürlich solle man Lehrern höflich, respektvoll und mit Dank begegnen, weil sie unschätzbares Wissen vermitteln können. Aber ausschließlich innerhalb bestimmter meditativer Vorstellungen im Kontext des tantrischen Buddhismus solle der Lehrer als Buddha wahrgenommen werden.²

Oft ist der Gruppendruck gerade in westlichen Konvertiertengruppen groß. Insbesondere wenn Menschen, die in der Kompensation ihrer eigenen gefühlten Defizite besonders stark auf den Guru als Heilsfigur projizieren, eine Leitungsfunktion innehaben. Zusätzlich wird dann oft ein mittelalterliches, magisches Denken kultiviert, indem z.B. den Schülern Schuldgefühle eingeredet und Angst vor karmisch negativen Folgen gemacht wird, wenn sie z.B. dem eigenen Lehrer kritisch begegnen. Der kluge Menschenverstand wird ausgeschaltet. Verstärkend kommt hinzu, dass tibetische Lehrer/innen oft keine wohlwollend kritischen Berater an ihrer Seite haben − manchmal auch nicht zulassen. Und je populärer sie sind, desto mehr sind sie mit Jasagern umgeben, aber gleichzeitig in ihrer absoluten Machtfülle isoliert. Dann können sie schnell den Bezug zum Angemessenen verlieren. Damit seien nur einige Aspekte des Dilemmas genannt.

Rinpoche und seiner Ehefrau, die seit Jahrzehnten eine aufmerksame Beobachterin der buddhistischen Szene hier im Westen ist, ist nicht entgangen, wie stark die aktuellen Skandale in den buddhistischen Gemeinschaften verunsichern, abstoßen und den Blick auf die vielen gut funktionierenden Gemeinschaften verstellen. Deshalb haben sie gemeinsam beschlossen, einige ihrer persönlichen Gedanken zu Papier zu bringen.

—Elke Hessel (Chökor, Ausgabe 67, 08/2019)

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Seit einiger Zeit kommt mehr und mehr das unmoralische Verhalten von prominenten Persönlichkeiten ans Tageslicht. Das ist eine weltweite Entwicklung, die natürlich auch die Religionsgruppen betrifft, und keineswegs eine neue Entwicklung. Denn schon seit mehreren Jahrhunderten gibt es viele Missstände − wenn wir Vorfälle in der katholischen Kirche als ein bekanntes Beispiel nehmen. Bedauerlicherweise betrifft das auch die buddhistischen Lehrer aus verschiedenen Ländern − inklusive Tibet. Und die modernen technischen Möglichkeiten bringen solche Informationen schnell an die Öffentlichkeit und verstärken sie. Seit einiger Zeit wird das absolut unkorrekte Verhalten von mehreren hochrangigen Rinpoches in der buddhistischen Welt diskutiert.

Wir, das Tibethaus Deutschland, sind ein Kulturinstitut mit einem umfangreichen buddhistischen Bereich. Es ist nicht unsere Aufgabe, derartiges Fehlverhalten innerhalb der tibetisch-buddhistischen Lehrer-Schüler-Beziehung zu bewerten. Das ist lediglich eine sehr ernst zu nehmende Aufgabe der betroffenen Personen und Organisationen. Dennoch möchten wir aufgrund der Bitte einiger Freunde kurz auf folgende Punkte aufmerksam machen.

Grundsätzlich ist es richtig und erforderlich, Verhaltensweise von buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern, die nicht mit der buddhistischen Lehre zu vereinbaren sind, bekannt zu machen. Dieser Akt der Transparenz sollte aber immer verbunden sein mit einer inneren guten Motivation (also nicht mit Häme oder gar Hass oder Rachegefühlen).³

Es gibt sicherlich verschiedene Ursachen oder Auslöser für das Entstehen solcher unmoralischen Verhaltensweisen. Und die Verantwortung für das Ergründen und die Aufarbeitung der Ursachen und Umstände für die Entwicklung der Probleme die schließlich in einen Skandal gemündet sind, müssen gemeinsam von den betroffenen Personen und den Organisationen angegangen werden. Es genügt absolut nicht, nur die Symptome zu benennen oder zu beseitigen.

S. E. Dagyab Rinpoche und Norden DagyabDagyab Rinpoche und Norden Dagyab
© Elke Hessel

Sehr häufig werden die Lehrerin oder der Lehrer als eine erleuchtete Person idealisiert. Wenn man so eine Einstellung hat, ignoriert man total, dass buddhistische Theorie und Praxis verschieden sein können. Dadurch werden hohe Erwartungen an die Lehrerin und den Lehrer geweckt. Hier vergisst man völlig, dass man logischerweise ein erleuchtetes Wesen nur dann wahrnehmen kann, wenn man selbst ein Buddha ist. Und es ist in dem Zusammenhang absurd, wenn – wie mehrfach geschehen − ein hochrangiger buddhistischer Lehrer seinen Schülern vorwirft, sie hätten keine reine Sichtweise, wenn sie das strittige Verhalten eines Lama der eigenen Gemeinschaft anprangern; sie würden seine reine Motivation nicht erkennen.

Auf der anderen Seite ist bekannt, dass manche Schülerinnen und Schüler sich sehr privilegiert fühlen, wenn sie zum engeren Kreis ihres Lehrers gehören dürfen. Alle Arten von näheren Verbindungen werden − zunächst − als große Chance bewertet. So wird alles akzeptiert und „mitgemacht“. Manche Lehrerinnen und Lehrer werden dadurch verwöhnt, sie verlieren irgendwann jede Form der Selbstkontrolle und Selbstreflexion.

So schaukelt sich das gegenseitige Fehlverhalten hoch, bis sogar sexuelle Verhältnisse entstehen.

Beide Seiten müssen sich bewusst sein, dass sie in gleichem Maße verantwortlich sind, die ethische Disziplin − wenn es darauf ankommt − besonders ernst zu nehmen. Und Lehrer und Schüler müssen auf beiden Seiten alles vermeiden, was unmoralisches Verhalten verursachen könnte und Vorbeugungsmaßnahmen treffen. Dazu gehört natürlich eine gewisse menschliche Reife, die leider nicht alle haben.

In der traditionellen indotibetischen Kultur gab es eine klare Hierarchie, und es war selbstverständlich, gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern Verehrung zu bezeugen. Doch müssen wir in der heutigen Zeit umdenken. „Die Regeln von Vinaya sind an Ort und Zeit anzupassen“, so wurde es in der buddhistischen Literatur formuliert.

Schüler/innen sind keine Diener und Lehrer/innen keine Bosse. Gegenseitiger Respekt entsprechend den heutigen gesellschaftlichen Regeln ist besonders wichtig und die unverzichtbare Grundlage für eine harmonischen Lehrer-Schüler-Beziehung.

Ihr Verhalten sollte nicht nur aus der Sicht des Spirituellen korrekt sein, sondern auch aus der Rücksichtnahme in Bezug auf das Ansehen des Buddhismus allgemein und speziell der eigenen Schulrichtung und den dazugehörigen Organisationen. Sonst entstehen massiver Schaden und Enttäuschung.

Hier ist es auch besonders für die Lehrer wesentlich, als mögliches Vorbild zu agieren. Sie sollen sich möglichst entsprechend der buddhistischen Lehre verhalten, so wie sie es ihren Schülerinnen und Schülern tagtäglich verkünden und beibringen. Schließlich haben die Lehrinnen und Lehrer eine besonders große Verantwortung und Aufgabe, ihre Schülerschaft auf den richtigen Weg zu führen.

Es gehört auch dazu − soweit wie es geht –, im eigenen Leben beispielhaft bescheiden zu leben, d.h., ohne großen Anspruch auf Luxus oder mit starker Gier, ohne überheblich zu agieren oder eine arrogante, egozentrische Haltung einzunehmen und unkontrolliert zu sein.

Ebenso ist es sehr wichtig, dass sie als Autoritätsperson in der eigenen Organisation jede Form von z.B. Missbrauch, Ausnutzung oder Unterdrückung unterbinden.

Wir wünschen uns, dass wir alle stetig an unserer eigenen inneren Haltung entsprechend der Lojong-Praxis arbeiten.


Anmerkungen

[1] Chödzong-Artikel aus Heft 4, S. 6-13.

[2] Siehe auch „Zwischen Freiheit und Unterwerfung“, Alexander Berzin

[3] Aus Je Tsongkhapa: The Great treatise on the stages of the Path. Chapter: Relying on the teacher, Page 86, Snow Lion, 2000: “The Gunaprabha Sutra on the discipline states: If the abbot instructs you to do what is not in accord with the teachings, refuse!”

Dagyab Rinpoche

Loden Sherab Dagyab Rinpoche wurde 1940 im Osten Tibets geboren und mit vier Jahren als der IX. Kyabgön (Schutzherr) der Region Dagyab anerkannt. Er zählt zu den ranghöchsten Tulkus (Hotuktu).

Als die VR China im Jahre 1959 Tibet überfiel und besetzte floh er zusammen mit dem Dalai Lama nach Indien ins Exil. Nach seiner Flucht aus Tibet erwarb er im indischen Exil den akademischen Grad eines Geshe Lharampa. Von 1964 bis 1966 leitete er das Tibethaus in New Delhi, welches als international anerkanntes Institut zur Erhaltung und Förderung der tibetischen Kultur gilt.

Einer Einladung der Universität Bonn folgend kam Dagyab Rinpoche 1966 nach Deutschland, lebte für ca. vierzig Jahre mit seiner Familie in der Nähe von Bonn und arbeitete an der Bonner Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2009 lebt er mit seiner Familie in Berlin. Er ist spiritueller Leiter des Tibethauses in Frankfurt am Main.

S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche wird als derjenige tibetisch-buddhistische Meister angesehen, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie, aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- und Kagyü-Schulen hält.

© Dagyab Rinpoche und Tibethaus Deutschland

Veröffentlich in Chökor Ausgabe 67, 08/2019, Seiten 32–33.

Mit freundlicher Erlaubnis von Dagyab Rinpoche und Elke Hessel.

Headerbild: © Marco Verch | „Auf Augenhöhe“ | (CC BY 2.0)

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