Die buddhistische Sexual-Ethik überdenken

José Ignacio Cabezón
Tibetan Buddhism & Cultural Studies
Department of Religious Studies
University of California

Im Pāli-Kanon galt nur Ehebruch als „sexuelles Fehlverhalten“. Später kamen weitere Regeln über Partner, Organe/Öffnungen, Zeiten und Orte hinzu. Der Autor unterzieht die Sexualethik einer fundierten Kritik.

Ornament

An einem warmen Junitag 1997 ging ich ins Fairmont Hotel in San Francisco, um an einer Konferenz mit S.H. dem Dalai Lama teilzunehmen. Einige Monate zuvor hatten schwule und lesbische Buddhisten um eine Audienz gebeten, um mit dem Dalai Lama seine Ansichten über Homosexualität zu diskutieren und um Klärung einiger Statements zu bitten, welche die Organisatoren irritiert hatten.

Gleich zu Anfang der einstündigen Begegnung sprach sich der Dalai Lama gegen die Diskriminierung von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transsexuellen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus. „Es ist ein Fehlverhalten der Gesellschaft, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zurückzuweisen“, sagte der Dalai Lama. „Ihr Bemühen um volle Menschenrechte ist vernünftig und logisch.“ Für die Gesellschaft als Ganzes liegt „kein Unheil in sexuellen Akten in gegenseitigem Einvernehmen. […] Keiner hat das Recht, auf Homosexuelle herabzuschauen“, fügte er hinzu.

Dann wandte sich die Diskussion dem zu, was die buddhistische Tradition toleriert – oder nicht. Anhand einer detaillierten Passage aus einem Text von des tibetischen Gelehrten Tsongkhapa (1357–1419), erklärte der Dalai Lama, was danach „sexuelles Fehlverhalten“ ist, also die Art von Sex, die als eine der unheilsamen Handlungen gilt. So ist nach Tsongkhapas Aussage Sex zwischen Männern verboten (aber, wie wir sehen werden, nicht zwischen Frauen), ebenso Masturbation, hetero- und homosexueller Oral- und Analverkehr, ja sogar Sex während des Tageslichts. Andererseits verbietet er einem verheirateten Mann nicht, die Dienste Prostituierter zu nutzen, und erlaubt heterosexuellen Männern bis zu fünf Orgasmen pro Nacht.

Nach der Erläuterung dieses Textes sprach der Dalai Lama über „die Möglichkeit, diese Regeln im Kontext von Zeit, Kultur und Gesellschaft zu verstehen. […] Wenn Homosexualität zu den (heute) akzeptierten Normen gehört, ist es möglich, dass es akzeptabel sein könnte. […] Doch kann keine einzelne Person oder ein Lehrer allein Regeln umdefinieren. Auch ich habe nicht die Autorität dazu. Solch eine Neudefinition kann nur aus einer Saṅgha-Diskussion innerhalb der verschiedenen buddhistischen Traditionen kommen. In der Geschichte des Buddhismus gibt es durchaus Beispiele dafür, dass (moralische) Themen umdefiniert wurden, aber es muss auf kollektiver Ebene geschehen.“ Der Dalai Lama forderte weitere Untersuchungen und Diskussionen über dieses Thema.

Gendün Chöphel - SkizzeSkizze von Gendün Chöpel

Krasse Fehlinformation bei westlichen Buddhisten

In den nachfolgenden Jahren griff ich die Aufforderung des Dalai Lama nach verstärkter wissenschaftlicher Forschung zum Thema Sexualität auf. Die tibetische Position in Bezug auf „sexuelles Fehlverhalten“ lässt sich nur verstehen, wenn man zuerst Klarheit darüber gewinnt, was für die tibetischen Gelehrten selbstverständlich war: ihre grundsätzlichen Ansichten über den menschlichen Körper, über Sex und sexuelle Lust.

Ich sah, dass man untersuchen musste, was indische und tibetische Texte sagen über die Unterscheidung der Geschlechter in den buddhistischen kosmologischen Erzählungen, über die Natur des Körpers und des sexuellen Akts, über die Psychologie der sexuellen Erregung, über die klassischen Methoden, mit sexuellem Begehren umzugehen und über die doktrinäre Begriffsbestimmung der sexuellen „Abweichung“, des „Schwulseins“.

Obwohl das Thema Sexualität in der buddhistischen Tradition einen hohen Stellenwert hat, gibt es kein einziges klassisches Werk, das Sexualität in ihrer Gesamtheit behandelt. Daher habe ich als Grundlage für meine Studien angefangen, Belege aus einzelnen Texten unterschiedlicher Perioden und Gattungen zu sammeln. Im nächsten Schritt ging es darum, dieses Material einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen.

Wie nun stellen sich moderne westliche Buddhisten zu dieser Thematik? Bei meinen Wanderungen durch das Internet fand ich heraus, dass diese entweder unwissend darüber waren, was die klassische indische und tibetische Tradition über Sexualität zu sagen hatten, oder – falls sie davon wussten – bereit waren, es abzutun, weil es nicht mit ihren Vorstellungen über den Buddhismus übereinstimmte. Dasselbe Muster zeigte sich in Gesprächen mit Nichtspezialisten, z.B. westlichen Laienbuddhisten in Dharmazentren): Viele waren uninformiert – und einige einfach nicht interessiert – an demThema. Sie glaubten nicht, dass diese Texte aus eine anderen Zeit etwas dazu sagen könnten, wie wir unsere Sexualität im Hier und Jetzt leben sollten.

Was die klassischen Texte sagen

Das erste Ziel meines Projekts musste also sein zu informieren, zu erklären, die vorhandene Literatur zu erfassen und Lernprozesse anzuschieben. Während einige meiner Freunde die Aussagen der Texte einfach ablehnten, zeigten andere eine Reaktion, die mich genauso verwirrte: „widerwillige Resignation“. Diese Gruppe war, wenn auch widerstrebend, bereit, eine restriktive sexuelle Ethik zu befolgen und ein Leben entsprechend der wörtlichen Botschaft der scholastischen Texte zu führen – wohl ohne wirklich zu verstehen, was das bedeutet. Zum besseren Verständnis hier die indischen und tibetischen Quellen im Wortlaut, sie besagen:

  • dass männliche Homosexualität verboten ist, aber weibliche nicht,
  • dass nichts anderes erlaubt ist als Penis-Vagina-Koitus, und dieser nur nachts,
  • dass es für verheiratete Männer in Ordnung ist, Prostituierte anzuheuern,
  • dass Polygamie erlaubt ist,
  • dass Männer jederzeit das Recht über den Körper ihrer Frauen haben – außer wenn die Ehefrau das Ein-Tages-Gelübde genommen hat. Doch selbst dann verliert die Frau ihr Recht, ihren Ehemann abzuweisen, wenn sie nicht vorher die Erlaubnis erhalten hatte, das Gelübde zu nehmen,
  • und schließlich, dass einer Reihe von Personen aufgrund ihrer sexuellen bzw. oder geschlechtlichen Identität oder ihrer anatomischen Eigenschaften die Ordination verweigert werden muss – Männern hauptsächlich wegen anomaler sexueller Begierden und Frauen überwiegend wegen anomaler sexueller Anatomien.

Wer bereit ist, die sexuellen Lehren der Tradition buchstabengetreu zu akzeptieren, legt sich fest, nach diesen Richtlinien zu leben. Aber ist dies wirklich die Art sexueller Ethik, die wir verinnerlichen sollten – ein Leben diktiert von Jahrhunderte alten Normen? Aber was ist die Alternative? Und wie rechtfertigen wir eine andere – und ich würde behaupten, eine angemessenere – sexuelle Ethik?

Welche Autorität haben die Schriften?

Im Zentrum dieser Themen steht ein grundlegendes Problem, mit dem sich alle Religionen konfrontiert sehen: das Thema der Autorität. Wie viel Glauben sollen wir den alten Lehren schenken? Welchen Einfluss sollen diese Grundsätze auf unser Leben haben?

Meine Methode – ich glaube, eine sehr buddhistische –,mit dem Thema Autorität umzugehen, kann zu drei grundlegenden Punkten zusammengefasst werden:

(1) Als Buddhisten wollen wir etwas über den Dharma lernen. Meistens sind es unsere Lehrer, die uns dieses Wissen vermitteln, doch wir sollten uns nicht einfach damit begnügen, sondern eher, wie der große Heilige Atiśa sagt, immer willens sein „nach mehr zu suchen, was man lernen kann“. Die Basis dieses Lernens sind die klassischen Texte Indiens und Tibets. Dieser großen Texttradition den Rücken zuzukehren hieße, sich von dem Juwel der Lehre, der wahren Quelle der Zuflucht, abzuwenden.

Den Kopf in den Sand zu stecken und die Konfrontation mit der Texttradition zu vermeiden, ist daher meiner Ansicht nach keine Option, genauso wenig wie die Texte zu studieren und dann von Fall zu Fall all das unter den Teppich zu kehren, was uns unbequem ist. Wenn wir als Buddhisten Zuflucht nehmen, dann heiraten wir in einer gewissen Weise die Tradition – und zwar als Ganzes, mit all ihren Unvollkommenheiten, so wie wir uns in einer Beziehung an den Partner binden. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Augen verschließen vor den Unvollkommenheiten der Tradition oder dass wir nicht an Verbesserungen arbeiten sollten – im Gegenteil!

(2) Haben wir einmal herausgefunden, was die Tradition zu sagen hat, müssen wir das kritisch hinterfragen. Hier stehen hauptsächlich die buddhistischen Intellektuellen, die buddhistischen „Theologen“ in der Verantwortung. Aber Nicht-Gelehrte, gläubige bzw. praktizierende Buddhisten sollten sich nicht damit zufrieden geben, löffelweise Wahrheit verabreicht zu bekommen von jenen, die behaupten, die Tradition zu repräsentieren. Sie sollten die theologischen Auslegungen einer Analyse unterwerfen.

Damit soll die Bedeutung des Vertrauens nicht heruntergespielt werden, aber es gibt nach dem großen indischen Meister Haribhadra drei Arten des Vertrauens. Die wertvollere Art ist die, bei der man mit Zweifel anfängt und dann mit der Kraft der Vernunft diesen Zweifel beseitigt und die Wahrheit erkennt. Ist ein unerschütterliches Vertrauens über einen Punkt entstanden, dann müssen wir natürlich die Wahrheit durch die Praxis der Meditation verinnerlichen, so dass unser Leben ein Ausdruck dieser Wahrheit wird.

(3) Der Prozess der kritischen Reflexion, wie er traditionell verstanden wird, ist relativ begrenzt. Es ist ein analytischer Prozess, der die Lehren daraufhin prüft, ob sie mit unseren Wahrnehmungen der Welt übereinstimmen und ob sie rational sind – d.h. ob es gute Gründe gibt, sie zu akzeptieren.

Heute haben wir weitere Werkzeuge zur Verfügung – z.B. die historische Analyse – und andere Konzepte, die man im klassischen Buddhismus kaum findet, etwa „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“. Darüber hinaus wurden im Westen auf Gebieten wie Diskursanalyse, Geschlechterforschung, Queer-Theorie und Kulturstudien nützliche Werkzeuge entwickelt. Wir müssen nur vorsichtig sein in der Art und Weise, wie wir sie anwenden.

Kurz gesagt, für Buddhisten wie mich sind die Lehren und Praktiken maßgebend, die man sowohl auf Textquellen zurückführen wie auch rational und öffentlich verteidigen kann. Eine Lehrmeinung ist nicht einfach verbindlich, weil der Buddha sie verkündet hat, noch ist etwas verbindlich, nur weil ein großer Lehrer es so sagt, denn die Tradition ist nicht unfehlbar.

Stattdessen ist etwas dann wahr und verdient unsere Loyalität, wenn es, in Tsongkhapas Worten, „analysiert worden ist und dem Test makelloser Argumentation standgehalten hat“. Am Ende wird die Verbindlichkeit einer buddhistischen Lehre oder einer ethischen Forderung dadurch entschieden, ob sie fähig war, die Herausforderung der Kritik unbeschadet zu bestehen.

Dies bringt uns manchmal in die Position, mit unseren eigenen Lehrern, mit den großen Heiligen Indiens und sogar mit dem Buddha selbst zu hadern. Doch so sei es! Wenn ich manchmal uneins bin mit mit Tsongkhapa, Asaṅga oder dem Buddha, dann denke ich daran, dass diese großen Männer selbst mit anderen vor ihnen uneins waren.

Noch einmal: (1) Es ist uns auferlegt, die klassische Tradition zu studieren, (2) wir müssen die Tradition kritisch anwenden, und (3) wir sollten das tun, indem wir alle Werkzeuge nutzen, einschließlich der modernen Wissenschaft.

Vergleich der Lehren mit heutigen Standards

Der Dalai Lama konzedierte in San Francisco, dass gewisse Aspekte der Lehre über sexuelles Fehlverhalten nach heutigen Standards problematisch seien und wies darauf hin, dass sie Elemente enthalte, die kulturell und historisch geprägt seien und die wir nach unseren heutigen Standards nicht nur als anachronistisch, sondern wirklich als ethisch problematisch ansehen. Dieser Kommentar des Dalai Lama, eröffnet uns die Möglichkeit, die Lehre über sexuelles Fehlverhalten insgesamt zu überdenken.

Erinnern wir uns daran, wie die Lehre über sexuelles Fehlverhalten im Detail formuliert war: Sex ist danach unethisch, wenn unpassende Partner, Organe, Zeiten und Orte involviert sind. Unpassende Partner, so die Texte, sind alle „geschützten Frauen“ (Mädchen, die noch unter dem Schutz ihrer Eltern stehen, verheiratete Frauen, usw.); zu unpassenden Partnern gehören auch Jungen, Männer und Hermaphroditen. Die Liste unpassender Partner schließt Prostituierte oder Kurtisanen ausdrücklich aus

„Unpassende Organe“ sind Mund, Anus, Hand und der Bereich zwischen den Oberschenkeln des Partners – womit gemeint ist: die Einführung des Penis in irgendeine andere Hautfalte oder Körperöffnung als die Vagina. „Unangemessene Zeiten“ bezieht sich auf Tageslicht und auf bestimmte Zeiten im Leben des weiblichen Partners – z.B. wenn die Frau menstruiert, stillt oder wenn sie das Ein-Tages-Gelübde genommen hat. Unter „unpassenden Orte“ finden wir heilige Stätten und öffentliche Plätze. Die Anzahl der erlaubten Orgasmen ist auf bis zu fünf pro Nacht beschränkt.

Zur kritischen Reflexion gehört es, auf die Subtilitäten im Text zu achten, einschließlich der „Lücken“: Was fehlt? So wird auf den ersten Blick klar, dass ausschließlich Männer angesprochen werdem und niemals Frauen. Die Frage, was sexuelles Fehlverhalten von Frauen ausmacht, hatten die klassischen indischen und tibetischen Autoren einfach nie bedacht. Dieses ist an sich schon ein guter Grund, die klassische Formulierung sexueller Ethik zu überdenken.

Zur kritischen Bewertung der Lehre gehört auch ein Verständnis des Kontextes, in dem diese Regeln ausgearbeitet wurden. Z.B. können wir nicht davon ausgehen, dass sie damals mit denselben Begründungen gegeben wurden, die diese Handlungen heute für uns unpassend machen. Während viele Elemente aus den Texten für uns heute sinnvoll sind, können wir nicht annehmen, dass antike indische Denker dieselben Einstellungen hatten, die für uns heute Erscheinungen wie Pädophilie und Ehebruch problematisch machen. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass in den Texten jemals an „sexuellen Missbrauch“ von Kindern gedacht wurde.

Vielmehr heißt es, dass, wenn ein Mann ein junges Mädchen oder die Ehefrau eines anderen zum sexuellen Partner nimmt, es die Beschützer sind, deren Rechte verletzt wurden: die Eltern des Mädchen bzw. der Ehemann. Heutzutage haben wir eine ganz andere Sicht auf die Welt – wir sehen Kinder und Frauen als Handelnde an.

Bedenken Sie auch, dass es eine ganze Reihe von Handlungen gibt, die wir ganz selbstverständlich als moralisch tadelnswert ansehen, die aber gar nicht erwähnt werden, z.B. Vergewaltigung. Während einige Texte von unpassender „Art und Weise“ reden, sexuelle Partner zu bekommen (wie List und Gewalt), so war das Recht des Ehemanns auf den Körper seiner Ehefrau unbestritten; dadurch konnte ein Begriff wie „Vergewaltigung in der Ehe“ gar nicht aufkommen. „Gehört“ eine Frau einem Mann erst einmal – ob auf Dauer (durch Heirat) oder vorübergehend (durch Prostitution) – verliert die Frau einfach ihr Recht „Nein!“ zu sagen.

Was finden wir, wenn wir die Lehre des sexuellen Fehlverhaltens einer historischen Untersuchung unterziehen? Die Antwort darauf ist eines der interessantesten Resultate meiner Recherche. Die frühesten Erwähnungen sexuellen Fehlverhaltens im buddhistischen Kanon zeigen nichts von der vierfachen Einteilung in Partner, Organe/Öffnungen, Zeiten und Orte. Stattdessen wird in den frühesten schriftlichen Quellen, den Sūtren, sexuelles Fehlverhalten einfach als Ehebruch verstanden: wenn ein Mann die Ehefrau eines anderen zum sexuellen Partner nimmt. Immer noch androzentrisch, da das Handeln der Frauen außer Acht gelassen wird (keine Erwähnung findet es, wenn die Frau einen verheirateten Mann zum sexuellen Partner nimmt), ist diese einfache Formulierung eleganter und effektiver. Ich sage „effektiver“, weil der Versuch, das sexuelle Leben der Menschen bis ins Kleinste zu regeln, als Strategie gescheitert ist. Listen mit Vorschriften und Verboten bewirken nur, dass die Menschen schauen, wie sie diese umgehen können.

Die buddhistische Sexualethik überdenken

Die klare historische Frage ist nun: Wenn die frühe Lehre zum sexuellen Fehlverhaltens so einfach und elegant ist, wann und warum wurde sie so komplex und restriktiv? Wir finden keine Beispiele für ausgefeilte Formulierungen sexuellen Fehlverhaltens vor dem dritten Jahrhundert. Zur Beantwortung der Frage „Warum“ müssen wir schauen, wer die indischen Autoren waren, die diese Lehren zusammengestellt haben. Es waren in erster Linie im Zölibat lebende Mönche und dann scholastische Philosophen. Männer also, die in Kategorien denken, die alles abdecken sollen.

Und warum begannen Theologen wie Asaṅga, Vasubandhu und andere, die Sexual-Ethik für Laien so auszuarbeiten, wie sie es taten? Ich glaube, dass sie diese Begriffe – Partner, Organe, Öffnungen, Zeiten und Orte – wählten, weil sie selbst mit diesen Begriffen vertraut waren. Denn diese Kategorien wurden verwendet, wenn es um das Übertreten der Regeln im monastischen Kodex, dem Vinaya, ging.

So zeigt uns eine historische Analyse, dass indische Autoren begannen, die Sexual-Ethik für Laien durch die Brille der monastischen Disziplin zu sehen, indem sie deren Regeln (z.B. wo und wo nicht Penisse eingeführt werden dürfen) auf Laien-Verhaltensregeln übertrugen. Bei der akribischen Ausarbeitung gingen sie dann aber in ihrem Überschwang zu weit. Das Endergebnis war, das die Sexualität der Laien zunehmend restriktiver und monastischer wurde.

Es bleibt noch die Aufgabe, die Lehre einer rationalen Untersuchung zu unterziehen. Dies kann auf vielfältige Weise geschehen. Welchen Zweck, so könnten wir fragen, hat die Lehre in erster Linie? Warum sollten Laien sexuelles Fehlverhalten vermeiden? Die Antwort könnte sein: um Handlungen zu vermeiden, die einem selbst und anderen schaden. Nun wird klar, warum eine Handlung wie Ehebruch als moralisch verwerflich angesehen werden könnte. Sie schadet anderen, weil sie zu seelischen Schmerzen führt und oft zum Bruch einer stabilen Partnerschaft. Sie schadet einem selbst, weil sie die eigene kurzfristige Befriedigung dem Wohlsein anderer vorzieht. Von  Ehebruch Abstand zu nehmen hat natürlich auch soziale Vorteile.

Aber welche Vorteile erwachsen aus dem stärker ausgearbeiteten und restriktiven scholastischen Sexual-Kodex? Mit welchen Begründungen könnte Sex auf nächtlichen Penis-Vagina-Geschlechtsverkehr beschränkt werden? Mit welcher buddhistischen Begründung könnte man Schwule (und allgemeiner, Menschen, die nachts arbeiten) zum Zölibat verdammen, während heterosexuellen Männern fünf Orgasmen pro Nacht erlaubt sind und Lesben komplette sexuelle Freiheit haben? Ist dies rational? Ist dies gerecht?

Wenn wir diese verschiedenen Aspekte – philologische, historische, rationale – zusammenstellen, kommt, ergibt sich Folgendes:

  1. Aus den Sūtren lässt sich keine Rechtfertigung für die restriktivere, scholastische Formulierung der Lehre ableiten. Es waren im Zölibat lebende Mönche, die in inadäquater Weise monastische Normen auf die Laiensexualität übertragen haben. Die Personen, die dies taten, waren große Gelehrte und Heilige, aber bei diesem Thema haben sie sich einfach geirrt.
  2. Die Lehre, sowohl in ihrer früheren einfachen wie auch in ihrer späteren ausgearbeiteten scholastischen Version, ist androzentrisch (sie privilegiert Männer) und somit ungerecht. Jede tragfähige Sexualethik muss Frauen und Transsexuelle als moralisch Handelnde ansehen.
  3. Schließlich kann auch, unabhängig von historischen und anderen Kriterien, die später ausgearbeitete Lehre nicht mit rationalen Begründungen gerechtfertigt werden.

Wir haben nun die Aufgabe, Sexualethik in einer Weise zu überdenken, die rational und gerecht ist – in einer Weise, die heterosexuelle Männer nicht privilegiert, die Handlungen von Frauen und Schwulen berücksichtigt und die niemanden aufgrund sexueller Vorlieben und Anatomien diskriminiert. Die Details einer solchen Sexualethik müssen natürlich noch ausgearbeitet werden. Das Minimum sollte sein, dass sie auf allgemeingültigen Prinzipien basieren, auf buddhistischen Moralprinzipien wie Gewaltlosigkeit und auf buddhistischen Lehrpositionen wie z.B. der Einsicht, dass der Körper das Mittel ist, sich zu vergnügen, aber dass sexuelles Vergnügen (wie alle Sinnes-Vergnügungen) eine Quelle der Anhaftung sein kann.

Und so lasse ich Sie hier zurück: nicht mit fertigen Antworten, sondern mit Anregungen darüber, wie eine gerechte buddhistische Sexualethik in unserer Zeit aussehen könnte. Und ich lasse Sie zurück in der Hoffnung, dass Sie meine Einladung annehmen und mit mir zusammen die spannende Aufgabe angehen, mit Hilfe der großen buddhistischen Texttradition über Sexualität nachzudenken.  ■

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Brandt

Dr. José Ignacio Cabezón ist Professor für Tibetischen Buddhismus und Kulturelle Studien an der University of California, in Santa Barbara und Autor zahlreicher Bücher. Er war 10 Jahre lang Mönch in der Gelug Tradition im Kloster Sera/Südindien.

Schwerpunkt seiner Arbeit sind Pholisophie des Tibetischen Buddhismus, monsatische Kultur und Studien zu Genderfragen und Sexualität.

© Tibet und Buddhismus & José Ignacio Cabezón

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Tibet und Buddhismus und José Ignacio Cabezón. Der Artikel erschien in Tibet und Buddhismus Nr. 107, 4/2013, S. 36–40.

Original in Englisch: »Rethinking Buddhism and Sex«, Buddhadharma, June 2009.

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