Colin Goldner: Fall eines Wissenschaftsjournalisten

Um es vorweg zu nehmen, ich habe Colin Goldners »Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs« nie gelesen, ja sein Buch nie in der Hand gehabt. Nur vereinzelt stieß ich auf seine Ansichten zu Tibet bzw. zum Dalai Lama und Tibetischen Buddhismus; nämlich, wenn Buddhismus-Interessierte mit wenig Grundwissen vom Tibetischen Buddhismus Teile seines Buches gelesen hatten und nun etwas aufgeregt über das Gelesene, mich auf bestimmte Aspekte seiner Darstellungen ansprachen.

Es war nie ein großes Problem die Aufregung zu entspannen und die Verwirrung aufzulösen. Als ich die Gelegenheit hatte eine Tibetologin auf dieses Buch anzusprechen, winkte sie nur ab und meinte, es wäre pure Zeitverschwendung sich mit diesem Buch überhaupt zu beschäftigen. Damit war das Thema für mich (vorerst) erledigt.

Das nächste mal hörte ich von Colin Goldner am Rande einer buddhistischen Arbeitsgruppe. Ein Zen-Praktizierender und Zen-Lehrer erwähnte kurz, dass er der TAZ ein Fax sandte, um sich über einen Artikel Goldners in der TAZ zu beschweren. Kurz nachdem er das Fax an die Redaktion gesandt hatte, erhielt er ein Fax von Goldners Anwalt mit einer Abmahnung zur Antwort. Wie er den Inhalt dieses Faxes und die ganze Angelegenheit schilderte, vermittelte mir den Eindruck ›mit Herrn Goldner ist nicht zu spaßen.‹ Dabei blieb es wieder für eine Weile.

Als dann die Western Shugden Society / Neue Kadampa Tradition im April 2008 ihre Anhänger gegen den »bösen und grausamen« (»evil and cruel«) Dalai Lama mobilisierte und erneut weltweite Proteste für »Religionsfreiheit« und gegen »religiöse Unterdrückung« organisierte, verfolgte ich etwas genauer die Pressereaktionen. Und in diesem Zusammenhang tauchte dann Colin Goldner wieder in meiner Wahrnehmung auf: als Autor eines ziemlich schrägen Artikels in der TAZ unter dem Titel »Aufstand der Phallusbrüller«. (Der Artikel wurde unter »Die Wahrheit« und als »Hintergrundbericht« veröffentlicht—das war ironisch gemeint.)

Die TAZ, meine geliebte und viel gelesene Studentenzeitung, gibt den bizarren und teilweise lächerlichen Ansichten (z.B. »Phallusbrüller« oder »Phallusgefährt«) Goldners ein Sprungbrett um seine Ansichten unter die links-intellektuelle Leserschaft zu bringen? Das fühlte sich schon ziemlich merkwürdig an. Andererseits hat mich der Buddhismus auch dazu gebracht, mich von typisch Berliner Linken Feindbildern—wie z.B. BVG, Polizei und Staat—etwas zu lösen und die ideologische Brille, mit der man als Linker so die Welt betrachtet, auch mal abzusetzen. So schrieb ich einen kurzen Kommentar und ließ die TAZ TAZ sein. Meinungsvielfalt ist ein wertvoller und wichtiger Reichtum unserer Kultur und unter Humor und Satire versteht jeder etwas anderes.

Na ja, da fängt eigentlich das Problem an: was ist eine Meinung, was berechtigte Kritik, was unwahr und was ist Verleumdung oder gar Hetze? (Verleumdung oder Hetze lassen sich zudem gut hinter dem Etikett ›Humor‹ oder ›Satire‹ verstecken.) Was gehört in eine seriöse Zeitung und wie berichtet man kritisch über ein anderes Volk—über eine andere Kultur und eine fremde Religion—ohne auf diese herabzusehen und alles lächerlich zu machen?

Die buddhistische Zeitschrift »Ursache und Wirkung« schrieb in einer Rezension zu Goldners Buch »Dalai Lama Fall eines Gottkönigs«, er schreibe »über die Probleme Tibets, wie ein überzeugter Neo-Nazi wohl über die Probleme Israels schreiben würde« und behauptet »Der klinisch-psychologische Blick Goldners ist eindeutig rassistisch. Sowie Nazis die Juden verunglimpften und nichts, aber schon gar nichts Menschliches und Liebenswertes an ihnen ließen, geht Goldner mit den Tibetern um.« Der Rezensent bezeichnete Goldner zudem als »verblendeten Fanatiker.«

Gegen diese Buchbesprechung ging Colin Goldner gerichtlich vor, verlor aber schließlich. Das Oberlandesgericht Wien begründete, dass die Auszüge aus Goldners Buch zu Recht als »vulgär vereinfachend« bezeichnet werden können, »sodass ihnen mit umso schärferer Kritik begegnet werden darf.« Und weiter heißt es: »Auch die unbestrittene pauschale Bezeichnung der Tibeter als menschenverachtend, raffgierig und skrupellos durch den Antragsteller [Goldner] lässt die Beurteilung seiner Beschreibung der Tibeter als rassistisch und damit auch den Vergleich mit der Sicht des Nazis über die Juden zu.«

Starker Tobak—aber das scheint auch Goldners Buch zu sein. Ein Linker, der so links ist, dass er schon wieder rechts rauskommt? Prüft die TAZ eigentlich den Hintergrund ihrer Gast-Autoren?¹

Im Gegensatz zu Trimondis, die in der Presse recht wenig präsent sind, fiel mir dann ab 2008 auf, dass Colin Goldner—der sich nun selbst als ›Wissenschaftsjournalist‹ ausgibt und wahrscheinlich als ›links‹-stehend betrachtet—eine gewisse Attraktivität für linke Medien zu haben scheint. Artikel zum Dalai Lama und Tibet erschienen neben der TAZ, in der Jungen Welt, in Neues Deutschland und Heise Online. Schließlich hielten seine Ansichten auch Einzug bei der Schweizer Weltwoche und ein ziemlich dumm-dreistes Flugblatt seiner Anhänger über Tibet und den Dalai Lama fand 2009 sogar unkritische Publikation in einer lokalen Marburger Zeitung. Auch die Neue Rundschau hielt sein Buch für empfehlenswert.² In einem weiteren Artikel für die Junge Welt bezeichnete Colin Goldner den Tibetischen Buddhismus als ein »faschismuskompatibles Psychopathensystem.«³

Klärt hier jemand auf oder versinkt jemand im Sumpf der eigenen extremen Vorstellungen? Ist der Autor, Colin Goldner—in Bezug auf Tibet, den Tibetischen Buddhismus und den Dalai Lama—eher ein (seriöser) ›Wissenschaftsjournalist‹ oder ›verblendeter Fanatiker‹?

Das möge jeder selbst beurteilen.

Tibetologen und Wissenschaftler, die ich befragte, winkten bei Colin Goldner ab. Keiner von ihnen nimmt ihn ernst. Es sei zwar ein Leichtes ihn zu widerlegen, aber keiner möchte seine Zeit verschwenden, sich mit seinem Buch zu befassen. Manche fragen sich, was Goldner eigentlich antreibt. Andere meinten, man könne ihm ja auch eine gute Motivation unterstellen, aufklären zu wollen, aber er schieße eben weit über das Ziel hinaus.

Insgesamt gibt es nur 2 Rezensionen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu seinem Buch.

In der einen stellt der Rezensent, Dr. Achim Bayer, u.a. verschiedene kolonialistische Sichtweisen bei Goldner fest und merkt an, dass sich Goldners Darstellung des tantrischen Buddhismus weitgehend auf das Buch »Der Schatten des Dalai Lama« von Herbert und Mariana Röttgen (Trimondis) stütze, das nach Goldners Urteil eine religionswissenschaftliche Quelle sei. Bayer kritisiert außerdem, dass Goldner die Zitate von Zeitzeugen im Exkurs »Lebensumstände unter den Lamas« hauptsächlich aus dem Kongressband »Mythos Tibet« entnähme und er diese reproduziere, »ohne darauf hinzuweisen, dass sie in Mythos Tibet z.T. Beispiele für die Projektionen westlicher Tibetreisender darstellen.« Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Goldner keine Tibeter zu Wort kommen lasse und dem Dalai Lama jede Kompetenz in Bezug auf die Lebensumstände in Tibet unter den Lamas abspreche, während Goldner gleichzeitig das Grundlagenwerk für tibetische Kultur und Geschichte, Rolf Steins »Die Kultur Tibets«, nicht einmal erwähne.⁴

Die andere Rezension stammt von Karl-Heinz-Golzio und steht auf www.info-buddhismus.de online zur Verfügung. Dr. Golzios Rezension befasst sich gleich mit beiden Büchern: »Der Schatten des Dalai Lama« von Herbert und Mariana Röttgen (= Victor und Victoria Trimondi) und »Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs« von Colin Goldner.

Zur Rezeption Goldners unter Wissenschaftlern konnten neben diesen o. g. Quellen nur noch vier weitere gefunden werden:

  • Jens-Uwe Hartmann, Professor für Indologie und Tibetologie an der LMU München, bezeichnet Colin Goldners Buch—als auch die zwei Werke Trimondis—zum Tibetischen Buddhismus als »wohl letztlich kommerziell motivierte Versuche« … »insbesondere den tibetischen Buddhismus als hochgradig gewaltbereit zu ›enttarnen‹« … »die ärgerlicherweise teils auch noch in ein pseudowissenschaftliches Gewand gekleidet sind.« (siehe Festvortrag »Triffst du den Buddha, wirst du ihn töten« Wie groß ist das Gewaltpotential im Buddhismus? S. 109-110)
  • In einer Fußnote in der englischen Ausgabe von »Mythos Tibet« merken die Tibetologen Dodin & Räther an, dass Colin Goldner—neben Röttgens (Trimondis) und Jutta Ditfurth⁵—zu dem Kreis der Autoren gezählt werden könne, die das »Feudale Hölle - Syndrom« via Internet und einigen Publikationen verbreiten, deren Standpunkt aber wegen des »stark dogmatischen Charakters« und »wegen der geringen Qualität ihrer Argumente« vernachlässigt werden könne.⁶
  • Es gibt eine Online-Rezension des Sinologen Andreas Gruschke unter dem Titel »Über die Stränge geschlagen …«.
  • Am 4.09.2009 kam es in Marburg zu einem Eklat im »Politischen Salon«⁷, als der Publizist Thomas Immanuel Steinberg, der sich auf Goldners Ansichten stützt, mit dem Indologen und Tibetologen der Philips-Universität Marburg Prof. em. Dr. Michael Hahn über das Thema »Der Dalai Lama. Kontroversen um eine Persönlichkeit« diskutieren sollte. Prof. Hahn verließ zusammen mit anderen Wissenschaftern aus Protest den Saal.

Damit könnte an dieser Stelle der Beitrag zu Colin Goldner enden.

Es erscheint mir aber sinnvoll, ein paar ergänzende Beobachtungen und Gedanken zu Colin Goldners Vorgehensweise und seine unkritische Leserschaft und Medienpräsenz anzufügen.

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Unkritische Leser und unkritische Medien

Wesentlich verwunderlicher als die ›Phallusbrüller‹ Colin Goldners ist für mich die Tatsache, dass es eine Reihe von Medien und Menschen gibt, die scheinbar nicht in der Lage oder gewillt sind, Colin Goldner und seine Arbeit kritisch zu hinterfragen, die ihm eine Plattform für seine bizarren und teilweise verleumderischen Darstellungen geben und seine Behauptungen als »Aufklärung«, »Kritik« und »Licht ins Dunkel bringen« preisen.

Menschen, die sich selbst für gebildet, kritisch, fortschrittlich und aufgeklärt halten, lassen sich von einem selbsternannten ›Wissenschaftsjournalisten‹ und ›Dalai Lama Biografen‹ blenden, der sich nicht scheut Fakten zu erfinden (z.B. Frauen könnten gemäß Tibetischen Buddhismus keine Erleuchtung erlangen; gemäß Tantra [Vajrayana] wäre es rechtens Frauen zu sexueller Vereinigung zu zwingen, selbst Achtjährige würden dazu herangezogen⁸ etc.) oder wissenschaftliche Quellen zu verfälschen und das Gegenteil der tatsächlichen Fakten zu behaupten (z.B. Grunfeld würde bestätigen, dass »derlei Tötungspraktiken [Menschenopfer d.A.] (…) bis weit in die Ägide des aktuellen Dalai Lama hinein weit verbreitet gewesen«⁹ wären).

Im Wesentlichen ist die Methode Goldners: er behauptet zuerst ein paar Tatsachen, dann stattet er diese mit Halbwahrheiten und Unwahrheiten aus. Er reißt Dinge aus dem Zusammenhang und verschweigt die Tatsachen, die dem Bild, das er zu zeichnen wünscht, entgegenstehen. Dann verdreht er dies alles noch weiter, indem er z.B. Informationen einfügt, die aus einem ganz anderen Zusammenhang oder fragwürdigen Quellen stammen, bis alles trübe ist und sich keine klaren Fakten und Zusammenhänge mehr erkennen lassen. (Dieses Vorgehen lässt sich z.B. exemplarisch im EMMA Artikel beobachten.¹⁰) Nachdem dieser geballte Info-Mix den Verstand des Lesers lahm gelegt hat, emotionalisiert oder polemisiert er und bringt platte, populistische Argumente. Seine häufig herabsetzende und mitunter als Hetze empfundene Sprache bewirkt zusätzlich, dass der Sachgegenstand, den er behandelt, als lächerlich oder »religiöser Wahnwitz« beim Leser erscheint.

Mein Eindruck ist, dass Colin Goldner auf inhaltlich-sachlicher Ebene nicht viel zu bieten hat, trotzdem er mit sehr vielen Quellen arbeitet und über gewisse Detailkenntnisse verfügt. Letztlich nutzt er aber all das nur, um durch die oben beschriebene Methode eine völlig verzerrte und entstellende Version der Tatsachen zu kreieren. Was ich bisher von Colin Goldner in Bezug auf Tibet, Tibetischen Buddhismus und den Dalai Lama gelesen habe, erscheint mir am ehesten mit den Abhandlungen eines rhetorisch begabten 12-Jährigen vergleichbar, der 50 Bücher über höhere Mathematik verschlungen hat, aber alles durcheinander bringt und seine eigene Unfähigkeit (oder tiefen Widerwillen), das Angelesene zu verstehen, mit abfälligen Äußerungen, wilden Behauptungen und Populismus kaschiert.¹¹

Manches von dem was Golder schreibt ist so offensichtlich falsch, verdreht, albern oder lächerlich—eine Beleidigung für den Intellekt und fern jeder Integrität und der Tatsachen—dass ich mich frage, wer so etwas überhaupt lesen kann. Was daran »Wissenschaft« sein soll, bleibt mir ebenso ein Rätsel. Die Beschreibung des Anthropologen Martin Brauen, die er auf bestimmte Tibet-Mythen-Erzähler anwendet, trifft meines Erachtens auch auf Colin Goldner zu: diese

Autoren versuchen ihren Geschichten Glaubwürdigkeit zu geben, indem sie einen wissenschaftlichen Ansatz simulieren … Ein häufig genutzter Trick ist dabei auf subtile Weise Wahrheiten mit Unwahrheiten und Erfindungen zu vermischen, zum Beispiel indem man in den Text bestimmtes historisches, geografisches oder ethnografisches Datenmaterial einarbeitet. Wenn einige dieser Informationen wahr sind, dann ist alles wahr—das ist der Eindruck der vermittelt werden soll.Brauen 2005:241-2

Colin Goldner ist geschickt genug, sein Herziehen über den Tibetischen Buddhismus, Tibet und die Dalai Lamas dem Profil der Zeitschriften oder Publikationen, die ihn abdrucken, anzupassen und seinen Abhandlungen den Geschmack der Aufklärung beizufügen. Gegenüber sehr linken Zeitschriften kommt er mit »Tibet als feudale Hölle«, bei gemäßigt linken Zeitschriften versucht er den Dalai Lama als rechtslastig und als Nazifreund darzustellen, im Namen des Humanismus verteufelt er den Dalai Lama als »Leibhaftigen Gottkönig«, der seinem Volk—ganz anders als dieses es selbst empfindet—nur Übles angetan hat. Bei einer Frauenzeitschrift wie EMMA etabliert er seine bizarren Darstellungen via »geheimer Sex«, Frauenthemen und sexuellem Missbrauch. Selbst Tierrechtsthemen nutzt er, um ein falsches Bild des Buddhismus und des Dalai Lama zu zeichnen.

Welchen Gewinn erzielt der Leser oder die Zeitung, wenn solche negativen Mythen, wie sie Goldner produziert, für wahr und als Aufklärung reklamiert werden?

Colin Goldner trifft allem Anschein nach in Deutschland auf eine bereitwillige intellektuelle Leserschaft und auf Medien, die ihm sein Angebot unkritisch, ja enthusiastisch abnehmen und es weiter verbreiten (oder verkaufen), so dass es schließlich auch den unbedarften Leser erreicht.

Geblendet von Goldner und in völliger Unkenntnis der Tatsachen schreibt dann z.B. der Kabarettist und Physiker Vince Ebert in der Frankfurter Rundschau

Jahrhundertelang waren die Lamas brutale Gewaltherrscher, die ihr Volk entweder als Sklaven und Leibeigene gehalten haben oder faktisch verhungern ließen.

Oder Jürgen Gottschling empfiehlt Goldners Buch in der Neuen Rundschau als »ein valides Gegengewicht zu dem Unsinn, der seit Jahrzehnten über das Thema veröffentlicht wird.«

Die Gründe für Goldners Akzeptanz und Verbreitung sind sicher vielschichtig und vielgründig. In jedem Fall ist aber sachliche, fundierte und differenzierte Kritik etwas anderes, als ein Land, seine gebeutelten Bewohner und ihre Religion und Repräsentanten als Prügelknabe zu benutzen an denen man sich abreagieren oder sein Ego als ›freier und kritischer Denker‹ aufbauen kann.

Vince Eberts Motto ist »Denken lohnt sich«. Ja, natürlich, aber stützt sich Denken nicht auf eine verlässliche Wissensbasis und die Fähigkeit vorurteilsfrei zu analysieren und zu differenzieren, kann der Denkende sich ziemlich weit von der Realität entfernen.¹² Es könnte sein, dass der Beifallzollende sich im Sog der Hetze eines anderen befindet und diese unterstützt, weil ihm der nötige Abstand und das Wissen fehlt zu durchschauen, auf was für ein primitives Spiel er sich eigentlich eingelassen hat.

Ein Beispiel, dass es auch anders geht, gibt für mich das Südwind-Magazin. Nach scheinbar anfänglichem ›Goldner-Rausch‹ setzt es sich kritisch mit dem eigenen Vorgehen und mit Colin Goldner auseinander. Für diese Auseinandersetzung wurde Rat von Fachleuten eingeholt. Danach stellt das Südwind-Magazin im Artikel »Kein Dämon, kein Gott« u.a. fest:

Tibet, genauer die Wahrnehmung von Tibet im Westen, ist ein Paradefall für das Auftreten von Vorurteilen aller Art. Die einen idealisieren Tibet und die anderen dämonisieren es. Bereits die frühesten Quellen – zumeist verfasst von christlichen Missionaren – sehen in den TibeterInnen entweder Vorbilder in Sachen Frömmigkeit und Religion oder aber Teufelsanbeter.

Das Buch von Colin Goldner, »Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs«, ist eines der Paradebeispiele der Gattung Dämonisierung. Beide Strategien, Idealisierung und Dämonisierung, bedienen allerdings häufig die selben Stereotypen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Kultur, Geschichte und Religion Tibets ist selten. Gerade die intellektuell und künstlerisch hochdifferenzierte tibetische Tradition stellt an einen westlich erzogenen Menschen hohe Ansprüche. Wer den Dalai Lama z.B. als »Gottkönig« bezeichnet, zeigt, dass er oder sie keine Ahnung von der Geschichte Tibets und dem Weltbild des Buddhismus in Tibet hat …

Tenzin Peljor
28. Mai 2010
letzte Änderung: 05. Mai 2017

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Fußnoten

¹ Die TAZ scheint ein wenig aufzuwachen und hat dann zumindest im Februar 2010 auf Colin Goldners umstrittene Ansichten im Artikel »Streit um Dalai-Lama-Kritiker« hingewiesen. Sie berichtet von der heftigen Ablehnung der Jusos, Goldner in die Stadtbibliothek Bremerhaven einzuladen und zitiert u.a. den Juso-Vorsitzenden Denis Pijetlovic: »Dann könnte man ja auch den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt aus ›Mein Kampf‹ lesen lassen und mit ihm darüber diskutieren.« Die Stadtbibliothek Bremerhaven sieht Goldners Darstellungen jedoch »als eine Meinung an, über die man diskutieren kann.«

² Colin Goldners Fähigkeiten geschickt Unwahrheiten mit Halbwahrheiten und einigen (wenigen) Fakten zu verbinden konnte man 2010 dann auch in EMMA nachlesen. Als »Dalai Lama Biograf« unter dem Titel »Seine Heiligkeit und der Sex« sind beeindruckende geistige Verrenkungen (z.B. ohne den geringsten Beweis zu suggerieren, der Dalai Lama würde Sex haben) und Goldner-Fantasien (z.B. Frauen könnten keine Erleuchtung erlangen; in Visualisierungsübungen würden »einfache Mönche« zur Masturbation verpflichtet; das Zölibat lasse sexuelle Aktivitäten zu; etc.) nachlesbar. EMMA titelte diesen Unfug mit »Ein Sex-Guru? Der Dalai Lama in der Kritik«.

³ Colin Goldner, »Bis die Schwarte kracht«, Junge Welt, 24.08.2009

⁴ Bayer, A. in ASIEN Jan 2001, Nr. 78, S. 141: »Colin Goldner: Dalai Lama - Fall eines Gottkönigs«

⁵ Colin Goldners Buch war bis kurz vor Fertigstellung als Gemeinschaftsarbeit mit Jutta Ditfurth geplant. Beide haben schon zuvor zum Thema Tibet publiziert. Jutta Dithfurth bloggte auch 2009 als der Dalai Lama in Frankfurt am Main war: »Der Dalai Lama war nicht in Wacken«.

⁶ siehe Fußnote 38 in »Imagining Tibet: Between Shangri-la and Feudal Oppression« von Thierry Dodin and Heinz Räther

⁷ »Eklat im ›Politischen Salon‹«, 27.08.2009, http://www.uni-marburg.de/fb10/iksl/indologie/aktuelles/news/salon [Der Link ist nicht mehr aktiv.] (PDF)

⁸ EMMA, Frühling 2010, »Seine Heiligkeit und der Sex« von Colin Goldner. Der EMMA-Artikel ist, wie andere Artikel von Colin Goldner auch, ein recycelter Artikel. Über den angeblichen sexuellen Missbrauch Minderjähriger schrieb er bereits in der Jungen Welt (»Der Phallokrat«, 29.07.2009).

⁹ Auf diesen Punkt wurde in einer Amazon Rezension zu Goldners Buch »Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs« hingewiesen. Die falsche Behauptung über angebliche Menschenopfer entstammt der chinesischen Propaganda-Machinerie.

Generell gehört Töten zu den negativsten Handlungen im Buddhismus—wobei es im Mahayana Buddhismus Ausnahmen in bestimmten Umständen für hohe Bodhisattvas gibt—und so gehörte zur Verbreitung des Buddhismus auch, andere vom Töten abzubringen. Goldners oben zitierte Behauptung ist völlig frei erfunden und durch keine wissenschaftliche Quelle belegbar.

Der Karmapa und später der III. Dalai Lama, Sonam Gyatso, brachten zudem die Mongolen von Menschenopfern ab. Dr. Karl Heinz Golzio (Universität Bonn) zitiert eine tibetische Quelle, die besagt:

In seiner ersten Predigt verkündete Gyalwa Sonam Gyatso allen Anwesenden — den Mongolen, Chinesen und auch den tibetischen Stammesangehörigen des Grenzlandes — das neue Gesetz. Er sagte ihnen, sie müßten lernen, das Böse aufzugeben, und den von Buddha vorgeschriebenen zehn Wegen des Guten folgen. Mord, Diebstahl oder Frauenraub seien zu verbieten, und statt dessen müßten sie lernen, die Leben, das Eigentum und die Rechte anderer zu achten.

Insbesondere ermahnte er die Chachar-Mongolen, ihren Blutdurst zu bezwingen. Es war Tradition in der Mongolei, daß beim Tod eines Mannes Lebewesen als Opfer für die Götter getötet wurden; die Zahl der Blutopfer hing von der Stellung des Verstorbenen ab. Häufig wurden seine sämtlichen Frauen, Sklaven, Pferde und Herdentiere als Opfer getötet. Gyalwa Sonam Gyatso wies sie an, diese schrecklichen Bräuche aufzugeben, statt dessen einfache Opfer aus einem Teil der Besitztümer des Verstorbenen für religiöse Zwecke zu verwenden, sowie tugendhafte Gebete und segensreiche Wünsche zu sprechen. Er ordnete an, daß der Brauch des Blutopfers völlig aufzugeben sei. Wer diesem Gebot zuwiderhandle, solle mit dem Tode bestraft werden, wenn er bei einem Menschenopfer ertappt worden sei, und mit der Enteignung seines gesamten Besitzes, wenn er ein Tier geopfert habe. Wer aber gegen diese Anordnungen verstoße, indem er den Mönchen Leid zufüge oder Tempel zerstöre, der sei mit der staatlichen Beschlagnahme seines Hauses und seiner Felder zu bestrafen.Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama, Karl-Heinz Golzio und Pietro Bandini, O.W. Barth Verlag, S. 77

Golzio differenziert diese Quelle und macht klar, dass ein einziger Auftritt, wie der Sonam Gyatsos, kaum die gesamte Rechts- und Religionsordnung eines Landes ändern könne und dass die Einführung dieses Erlasses mühselige Machtkämpfe und langwieriger Verwaltungsakte bedurft haben mag. (S. 78ff) Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Tibetische Buddhismus de facto zum Aufgeben von Menschenopfern beitrug.

¹⁰ In EMMA, 2/2010 startet Goldner locker und flockig. Eine Nebenüberschrift »Schlingel« lädt zum Schmunzeln ein, ein paar wahre Zitate hier und dort, dann eine entstellende Karikatur des Vajrayana, um schließlich zum Kern zu kommen: Tibeter und Lamas zwingen Frauen und sogar achtjährige Mädchen zum Sex und decken das Ganze. Um diese ungeheuere und verleumderische Behauptung zu belegen streut er den Fall einer erwachsenen Frau, June Campbell, ein—die behauptet mit einem sehr alten Lama (Kalu Rinpoche), der einem ganz andern Orden (Kagyu) als der Dalai Lama angehört—eine sexuelle Beziehung gehabt zu haben (zwei Tibetologen äußerten mir gegenüber, dass sie persönlich in diesem Fall ihre Zweifel haben), um dann das Unbewiesene zu behaupten: dass man davon ausgehen könne, auch der Dalai Lama hätte geheime sexuelle Gefährtinnen (wahrscheinlich auch 8jährige?). Goldner verschweigt dem Leser, dass der Dalai Lama der Gelug-Tradition angehört und mit Kalu Rinpoche und dem Fall gar nichts zu tun hat. So wird z.B. in der Gelug Tradition Wert auf das Beispiel Tsong Kha Pas gelegt, der Mönch war und auch keine Gefährtin hatte! Goldner suggeriert dem Leser unbelegte Behauptungen, damit dieser sich aufgeregt empören kann: systematischer sexueller Missbrauch—sogar von Kindern, das Zwingen zum Sex und selbst Sex unter Mönchen sei üblich; Beleidigung und Herabsetzung von Frauen etc. … Die Botschaft kam bei einigen Leserinnen an. So schrieb eine Leserin in EMMA 3/2010: »Der systematische Missbrauch von Mädchen und jungen Frauen durch die Führungselite des tibetischen Vajrayana-Klerus aber ist keine Lausbüberei, sondern ein ›spirituell‹ kaschiertes Verbrechen. Und als das muss es auch schonungslos benannt werden.«

Tibeter, Lamas, der Dalai Lama oder Vajrayana praktizierende Buddhisten werden sich keinen Anwalt nehmen und Goldner wegen Verleumdung verklagen. Der Leser wird dann denken: ›dann wird es wohl stimmen‹ …

Die Quelle für die angebliche achtjährige Sexgefährtin scheint für Goldner Gendün Chöpel zu sein. Dieser propagiert ›das erste Mal‹ bei Frauen aber frühestens ab dem Alter von 16 Jahren und er spricht mit Achtung über Frauen. Elke Hessel schreibt in ihrem Artikel über Gendün Chöpel: »Der Tibetologe Jeffrey Hopkins bezeichnet ihn aufgrund dieses Buches [Tibetische Kunst der Liebe], das die Wertschätzung und absolute Gleichstellung der Frau fordert, als den ersten tibetischen Feministen.« Gendün Chöpel warnt zudem vor gewaltsamen Sex und er warnt Mönche, seine Werke zu lesen. Gewaltsamer Sex scheint einer altindischen Quelle zu entstammen; »Hundeschnauzen« usw. stammt ebenfalls von einer altindischen Quelle—all dies hat also nichts mit dem Tibetischen Buddhismus oder dem Dalai Lama zu tun. Das vierzehnte Wurzelgelübde eines Vajrayana-Praktizierenden untersagt außerdem ausdrücklich Frauen herabzusetzen oder zu verspotten. Goldner entstellt erneut mit diesem Artikel die tibetische Gesellschaft, die Religion der Tibeter und er verleumdet den Dalai Lama. Dass er dies eher locker flockig tut scheint eine neue Qualität zu sein; in früheren Schriften war der Ton der Hetze leichter erkennbar.

Der Punkt ist hier nicht, dass es wie in jeder Gesellschaft oder Religion auch Missbrauch gibt, aber Colin Goldner fantasiert sich eine Welt zusammen, die nichts mit dem Dalai Lama, Tibet oder dem Tibetischen Buddhismus zu tun hat. Dass dem Glauben geschenkt wird und dies als »Aufklärung« verklärt wird, ist das eigentlich Verwunderliche oder Skandalöse. (Mehr zum Hintergrund: sexuelle Vereinigung im Vajrayana. Für eine detaillierte Erklärung siehe Fußnote 40 in Tibetischer Buddhismus.)

¹¹ Dies mag ein recht oberflächlicher Eindruck sein. Eine Person, die sich kritisch und differenzierter mit Goldner auseinandersetzte, merkte zu dieser Meinung an:

Den Eindruck hatte ich ursprünglich auch. So kritisiert er am Buddhismus, dass dieser defätistisch wäre, da er eine Abkehr vom Leben, das ja Leiden ist, fordere. Ein auf Unkenntnis basierendes Missverständnis, das teilweise auf das eher pessimistische Weltbild Schopenhauers zurückgeht (aber auch Hegel oder Joseph Ratzinger). Oder er argumentiert mit der völlig unsinnigen Aussage, es sei nicht bewiesen, dass Buddha gelebt hat (eine Aussage, die von einem völligen Unverständnis für historisch-gesellschaftliche Prozesse zeugt). Doch nachdem ich mich intensiver mit ihm auseinandergesetzt habe, kann ich sagen, dass ich von seiner umfangreichen Faktenkenntnis sehr beeindruckt bin. An dieser Stelle schon mal: Ich habe Goldners Erstveröffentlichung »Zen in der Kunst der Gestalt-Therapie« von 1986 gelesen. Da war er noch Buddhist und hatte ein unglaublich tiefes Verständnis von der Lehre des (Zen-)Buddhismus. Außerdem weiß ich, dass Goldner ein gutes Verständnis psychologischer, sozialer und historischer Prozesse hat. Zudem sind seine rhetorischen (besser: rabulistischen) Fähigkeiten beeindruckend. Er wendet aber leider alles nicht zur Wahrheitsfindung an, sondern zur Hetze.

¹² Vince Ebert verfügt scheinbar nicht einmal über Grundwissen zu Tibet. So ist z.B. der Dalai Lama kein »selbsternannter ›Ozean des Wissens‹«, sondern der Titel ›Dalai Lama‹, der häufig als ›Ozean der Weisheit‹ übersetzt wird, wurde 1578 Sonam Gyatso (dem III. Dalai Lama) als Ehrentitel von Altan Khan verliehen. (Golzio und Bandini 1997:79) Aber vielleicht handelt es sich bei Vince Eberts Artikel »Erleuchtung trifft Commerz« auch um »eher einen von den platten Physiker-Witzen«? Substanzlose Kritik trifft auf Commerz: Kritisieren Sie den Dalai Lama—egal wie—»dann gelten Sie als verantwortungsvoller, kritischer Mensch. Oooommmm!«

Ein weiteres Beispiel für realitätsfremde Fantasien sind die Behauptungen im Artikel »Psychopathisches Wahnsystem« auf der Webseite der »Humanistischen AKTION für verantwortliche Menschlichkeit«. Dort heißt es u.a. in Berufung auf Colin Goldner:

Systematisch wurden durch den tibetischen Buddhismus »geistes- und seelenverkrüppelte Menschen herangezüchtet«. Wesentlicher Bestandteil des Ritualwesens sei die Einnahme unreiner Substanzen. Dazu gehörten die fünf Arten von Fleisch (Stier-, Hunde-, Elefanten-, Pferde-, Menschenfleisch) sowie die fünf Arten von Nektar (Kot, Gehirn, Sexualsekret, Blut, Urin).

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