Die Fremden aus dem Fernen Westen

Zum Bild des Europäers in der tibetischen Geschichte

von Isrun Engelhardt

Die Faszination, die von Tibet für den Westen ausging (»Mythos Tibet«), hat sowohl in der einzelwissenschaftlichen Forschung, wie auch in einer breiter kulturwissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, daß es nicht nur die Europäer sind, die sich Bilder vom jeweils Anderen machen. Auch die Tibeter haben in ihrer Geschichte und in der Geschichte der gegenseitigen Kontakte Vorstellungen von Europa entwickelt, die ihrerseits Konsequenzen für ihr Bewußtsein und ihr Handeln hatten. Einen ersten Schritt in diese Untersuchungsrichtung wollen wir anhand der nachfolgenden Beispiele vorstellen.

Als am 12. Juni 1707 zwei Kapuzinermönche in Lhasa eintreffen und damit den eigentlichen Beginn der katholischen Tibet-Mission begründen, eilt ihnen schon der Ruf voraus, den die Jesuitenmissionare in Peking genießen. Ob sie Kenntnisse in Mathematik, Astrologie, Arithmetik und Architektur besäßen, ob sie etwas von Uhren verstünden, oder ob sie nur einfache Ärzte seien, will der Regent bei seiner ersten Begegnung mit den europäischen Mönchen wissen. Bedauerlicherweise können die Kapuziner diesen hochgesteckten, an Europäer gerichteten Erwartungen nicht gerecht werden. Auch in den folgenden Jahren sind es Ergebnisse und Verfahren der Naturwissenschaften, Geräte und technische Anwendungen, die den Reiz Europas für Tibet ausmachen: Fernrohre, Thermometer, Uhren und Wasserpumpen wecken das Interesse der Tibeter. Glas- und Spiegelherstellung gelten als wünschenswerte, von den Europäern zu erlernende Fähigkeiten.

Diese Faszination der Tibeter an europäischer Technik wird zu einem durchgängigen Moment der Begegnung Tibets mit dem fernen Westen. Obwohl der Regent des 4. Panchen Lama dem englischen Handelsgesandten Samuel Turner 1783 mit Selbstbewußtsein gegenüber die Überzeugung äußert, daß die tibetische Kultur viel älter als die europäische sei, gibt er dennoch ihre ungeheuren Defizite zu. Die Bewohner Asiens seien jetzt von den Europäern weit überflügelt worden. Was sie selbst, die Tibeter angehe, hätten sie jedoch all das Wissen, was für sie selbst notwendig und nützlich sei.

In seiner 1820 in Peking verfaßten Geographie der Welt faßt bTsan-po No-mon-han die Kenntnisse und Vorstellungen von Europa zusammen und schildert beeindruckt die handwerklichen-technischen Errungenschaften: hervorragend gemachte Uhren in unterschiedlichen Größen, Kompasse, unterschiedliche Glasinstrumente, die Höhe des Landes und die Temperatur messen, die Zimmer und Betten wärmen, die den Puls der Kranken messen, Musikinstrumente wie Gitarren und Flöten, Fahnen, die vor Blitz und Hagel schützen, Himmels- und Erdgloben.

Die beiden französischen Lazaristen Evariste-Régis Huc und Joseph Gabet, die sich 1846 kurzzeitig als Missionare in Lhasa betätigen konnten, schildern die Begeisterung des Regenten für Technik: »Der Regent unterhielt sich auch gern über Frankreich. Er war vor Verwunderung außer sich über alles, was wir ihm über Dampfschiffe, Eisenbahnen, Luftballons, Gasbeleuchtung, Telegraphen, Daguerreotypie und Maschinen erzählten, und als wir wie einst über Sternwarten und astronomische Instrumente sprachen, bat er uns, ihm das Mikroskop zu zeigen«¹. Später vermachen sie ihm dieses als Abschiedsgeschenk, da es ihn so fasziniert hatte.

Dieses Interesse an den technisch-naturwissenschaftlichen Errungenschaften Europas vollzieht sich auf dem Hintergrund einer bemerkenswerten, ursprünglichen Offenheit Tibets gegenüber dem fremdem, fernen Westen. Diese Offenheit, die mit gewissen örtlichen Variationen bis ins 19. Jahrhundert anhält, zeigt sich auch in dem Bemühen, Fremdheit abzubauen und Ähnlichkeit zwischen Europäern und Tibetern heraus- bzw. herzustellen.

Während der ersten Jahrzehnte der Kapuzinermission in Lhasa sehen die Tibeter große Ähnlichkeit zwischen ihrer eigenen Religion und Christentum und bezeichnen die Kapuziner als europäische Lamas: »Ihr seid Lamas wie wir«.

Im Jahr 1783 bemüht sich der Herrscher von Bhutan, Samuel Turner gegenüber Argumente für die Ähnlichkeit zwischen Bhutanesen und Engländern zu finden, da doch Gewänder aus Wolle, Fleisch, Alkoholika und Tee gleichermaßen in Bhutan wie in England im Gebrauch sind. Das bemerkenswerteste Argument ihrer Gleichartigkeit findet er in ihrer gemeinsamen Ablehnung des Kastenwesens der Hindu.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel Fremdheit zu verringern, stellt eine Situation im Jahr 1846 in Lhasa dar. Die Missionare Huc und Gabet sollen als illegal eingereiste Ausländer auf Druck des chinesischen Amban Lhasa verlassen. Nach einer aufregenden Auseinandersetzung mit dem Amban über die unterschiedlichen Grade von Fremdheit von Ausländern in Lhasa, eilen die beiden Lazaristen zum tibetischen Regenten. Dieser weist zuerst darauf hin, daß die tibetische Regierung zwar Tausende in ihrem Lande lebende Ausländer beschütze, räumt aber ein, daß die tibetischen Gesetze Ausländern die Einreise in ihr Land verbieten, doch bringt er anschließend ein überraschendes Argument ins Spiel: »Aber diese Gesetze berühren Euch nicht. Religiöse Personen, Männer des Gebets in aller Welt, sind nirgendwo Ausländer. Das ist die Lehre unserer heiligen Bücher«. Schon vorher hatte der Regent festgestellt, »… denn die Religion sei das Wesentlichste für den Menschen. Ich sehe, daß Franzosen und Tibeter darüber die gleiche Ansicht haben. Wir haben gar keine Ähnlichkeit mit den Chinesen, welche mit der Seele nichts im Sinn haben«².

Die tibetischen Bemühungen, Fremdheit abzubauen und in Bekanntes zu überführen, machen auch nicht davor halt, Europäern bisweilen eine Funktion innerhalb der buddhistischen Religion und Kosmologie zuzuschreiben: So wurde Queen Victoria als eine der Inkarnationen der wichtigen Göttin Palden Lhamo, der Schutzgöttin der tibetischen Regierung, angesehen. Man war auch sehr besorgt, daß sie lang lebte, da es eine Prophezeiung gab, daß zu ihren Lebzeiten die Engländer nicht in Tibet einmarschieren würden. Die Prophezeiung bewahrheitete sich erst drei Jahre nach ihrem Tod besetzten die britischen Truppen Lhasa.

Austine Waddell, ein Teilnehmer der Younghusband-Expedition, kaufte einen ganzen lamaistischen Tempel bat dann die Lamas, ihm alle Symbole und Riten zu erklären. »Als sie nun sahen, wie sehr ich interessiert war, fühlten sie sich verpflichtet, einen prophetischen Bericht in ihren Schriften, der sich auf eine buddhistische Inkarnation im Westen bezieht, zu meinen Gunsten zu interpretieren. Sie überzeugten sich selbst, daß ich eine Spiegelung des Buddha des Westens, von Amitabha war. So überwanden sie ihre Skrupel und teilten ihr Wissen freigiebig«³.

Aber natürlich war der Europäer auch der Fremde, der unverhohlener Neugier erregte. George Bogle, der erste englische Handelsgesandte erfuhr dies 1774 am eigenen Leibe: »Da ich der erste Europäer war, den sie jemals gesehen hatten, kamen Mengen von Tibetern, um mich zu betrachten, gerade wie die Leute zum ›Tower‹ (London) gehen, um die Löwen zu betrachten. Mein Zimmer war ständig voll von ihnen von morgens bis nachts«⁴.

Die in Tibet seltenen Europäer werden als unerschöpfliche Quellen für geographische und politische Informationen über die Welt außerhalb Tibets angesehen. So fertigt George Bogle auf Wunsch des 3. Panchen Lama eine Beschreibung Europas an. Einen nachhaltigen Eindruck auf die tibetische Imagination hinterlassen besonders die Herrscherinnen Katharina II. und Queen Victoria. Über sie können die Tibeter gar nicht genug erfahren.

Erklärungsbedürftig scheint für die Tibeter der Drang der Europäer, in ferne Länder zu reisen: Der Regent des 4. Panchen Lama äußert zwar gegenüber Samuel Turner seine große Bewunderung über den mutigen und unternehmerischen Geist, der die britische Nation beflügelt und für die hartnäckige Ausdauer, mit der die Engländer ihre Vorhaben angehen. Auch war er aufgrund der ihm zugänglichen Informationen überzeugt, daß es wohl kaum ein anderes Volk auf der Erde gäbe, das den Engländern hinsichtlich technischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung gleich käme. Doch Grund dafür, daß so viele Engländer ihr Land und ihre Freunde verließen, und sich den Gefahren des Reisens in entlegene Gegenden aussetzten und rauhem Klima und groben und ungastlichen Menschen trotzten, konnte nach Meinung des Regenten nur ein Defekt in England selbst sein.

Teilweise parallel, teilweise nachgeordnet findet sich jedoch auch eine andere Linie der Tibeter im Umgehen der Tibeter mit den fremden Europäern. Wurden in der ersten und zweiten Phase der Kapuzinermission in Lhasa Ähnlichkeiten in den beiden Religionen gesehen und das religiöse Verhalten der Mönche und ihr kostenloses ärztliche Tätigkeit bewundert, verändert sich diese Haltung nicht zuletzt als Konsequenz des immer stärker hervortretenden Ausschließlichkeitsanspruch der christlichen Religion. Das zunehmende Unverständnis der Tibeter für das Auftreten der Kapuziner wird vom Regenten Pho-lha-nas 1742 auf den Punkt gebracht, in dem er die Missionierung in Lhasa und in Rom vergleicht und den Kapuzinern darlegt, daß in Tibet Kaschmiri, Newari, Inder, Chinesen, Turkvölker, Kasachen, Kirgisen und weitere Völker lebten, ihre eigene Religion praktizierten, und sich, und soweit möglich, des Schutzes der tibetischen Obrigkeit erfreuten. »Ihr aber habt (im Gegensatz zu jenen) schlecht von Personen und Institutionen unserer Religion geredet. Was würdet Ihr in euren Ländern machen, wenn einer von uns dorthin käme, um unsere Religion zu predigen«⁵?

Die erstaunliche Offenheit und Geduld der Tibeter scheitert an der Unduldsamkeit der Kapuziner. Das Angebot: »Seid doch wie wir. Wir beleidigen Eure Religion nicht. Also dürft auch Ihr unsere nicht beleidigen«, wird zurückgewiesen. Die Abgrenzung gegenüber den europäischen Mönchen ist also nicht Ausgangspunkt sondern Endpunkt einer Entwicklung, in der der christliche ›Fundamentalismus‹ seinen Beitrag zur Herausbildung fremdenfeindlicher Tendenzen in Tibet leistet. Innerhalb der lamaistischen Geistlichkeit erstarkt eine Fraktion, die Fremden gegenüber mißtrauisch bis feindlich eingestellt ist. Was zunächst nur für die italienischen Kapuziner gilt, sollte bald die Einstellung gegenüber allen Europäern prägen. Mit dem Ende der Tibet-Mission beginnt die graduelle Selbstabschottung Tibets.

Gleichlaufend, sowohl als Ursache wie auch als Konsequenz derselben, verändert sich natürlich auch das Bild, das sich Tibeter von Europäern machen. So gibt der 3. Panchen Lama die aggressive und expandierende Haltung der Engländer als Grund für die Einreiseverweigerung von George Bogle an: »Ich hatte auch soviel von der Macht der Fringies (Engländer) gehört, und daß die (East India) Company wie ein mächtiger König war und Kriege und Eroberungen liebte, und da meine Aufgabe und die meines Volkes darin besteht, zu Gott zu beten, hatte ich Angst, irgendeinem Fringie die Einreise ins Land zu gestatten. Aber seitdem habe ich gelernt, daß die Fringies ein anständiges und gerechtes Volk sind. Ich habe bisher nie Fringies gesehen, aber ich bin sehr glücklich über Eure Ankunft und ich hoffe, Ihr denkt gar nicht mehr an meine frühere Ablehnung«⁶.

Auch Samuel Turner berichtet von der Angst der Tibeter vor der wachsenden Macht und dem Eroberungswillen der Engländer, Befürchtungen, die auch in anderen asiatischen Staaten gehegt wurden. Der 3. Panchen Lama sei jedoch aufgrund seiner überragenden geistigen Fähigkeiten in der Lage gewesen, sich über die unreflektierten populären Vorurteilen zu erheben, die Tibeter in einer Allianz mit den Europäern zu versöhnen.

In Konflikt- und Krisensituationen (mit den Europäern) wird zunehmend auf die Institution Orakel und Prophezeiungen zurückgegriffen, um das Verhältnis zu den Fremden zu definieren. So anläßlich der großen Überschwemmung von 1725 in Lhasa während der Regierungszeit des 7. Dalai Lama. Schon vorher, als bekannt geworden war, daß den italienischen Kapuzinern der Erwerb von Grundeigentum und der Bau eines eigenen Klosters gestattet sein würde, kommt es zu Unmutsäußerungen im Volke. Ein von Indern in die Welt gesetztes Gerücht, auf die Kapuziner würden Soldaten folgen, die Lhasa besetzten, ein Vorgang, der auch schon in anderen Gegenden geschehen sei, tat ein übriges.

Nach einer alten Prophezeiung wird der Kirchenbau der Kapuziner für die Überschwemmung verantwortlich gemacht: »Es werden fremde Mönche kommen, Anhänger einer anderen Religion als unserer, um unsere tibetische zu zerstören und vernichten, und das Zeichen dafür wird folgendes sein: Wenn die fremden Mönche ein Kloster in Lhasa bauen, wird so viel Regen fallen, daß der Fluß sein Bett verlassen und Lhasa überschwemmen wird; deshalb ist besagtes Kloster sofort niederzureißen und dem Erdboden gleichzumachen, und die Mönche sind aus dem Land zu weisen«.⁷ Als nun die Naturkatastrophe eintritt, versucht die aufgebrachte Volksmenge, den Bau der Kapuziner niederzureißen. Regent, Dalai Lama und verschiedene Orakel werden in der Auseinandersetzung angerufen. Schließlich beendet der Regent unter Androhung schwerer Strafen die Unruhen. Auch das Orakel von Samye, wie andere in der Folge, bestätigt, daß die Überschwemmung nicht vom Bau der Kapuziner hervorgerufen worden war, sondern vom Verhalten der Tibeter selbst.

Im ersten militärischen Konflikt von 1888 mit England an der sikkimesisch-tibetischen Grenze bei Lungthur verlassen sich die Tibeter auf den vom Orakel vorhergesagten Sieg. Die Vermittlung durch den Herrscher von Sikkim und die Warnungen der Engländer vermögen nichts gegen die Orakelsprüche und Zauberrituale, die gegen die Engländer vollzogen wurden. Die Folge ist eine verheerende Niederlage der Tibeter.

Doch nicht einmal diese Erfahrung bewirkte im Jahr 1904, als Francis Younghusband mit seinen Truppen anrückte, eine politische Auseinandersetzung mit der neuen Gefahr. Man verließ sich weitgehend auf das Staatsorakel, das einen Sieg der Tibeter vorgesagt hatte. Die anschließende militärische Niederlage hatte auch Folgen für das Orakel: Es mußte fliehen und wurde später abgesetzt.

Wie die letzten Beispiele zeigen, haben sich die ursprünglich freundlichen Verhältnisse zwischen Tibetern und Europäern langsam in ihr Gegenteil verändert. Englische Expansionspolitik einerseits, chinesischer Druck auf totale Abschottung gegenüber den Europäern andererseits und die Selbstabschließung der tibetischen Gesellschaft und Kultur gegen europäische Einflüsse, haben nicht nur eine zunehmende Verschlechterung der Beziehungen Tibets zu England zur Folge, sondern sie führen auch zu einer deutlich veränderten Sichtweise der Europäer durch Tibeter. Beredtes Zeugnis hierfür ist ein Brief von bKa'-drung Nor- nang dBang-'dus -tshe-ring im Auftrag des Kashag an den Herrscher von Bhutan im Rahmen der oben erwähnten Krise von 1888: »Diese, die Ausländer genannt werden, tolerieren nicht das vollkommene Wohl der anderen. Auch wenn sie jegliche Länder in den Nachbarländern durch Täuschung und Nötigung erobern können, so sind sie weithin bekannt als üble Heuchler. Sie haben nicht die Beschränkung ihrer Begierden gelernt, und besitzen nicht die guten Sitten von Scham, Mäßigung und Klugheit, die Kennzeichen einer großen Nation sind, da sie auf schwerste unsere Lehren und Sitten beleidigt haben«.⁸

Die Gründe, die für die Einreiseverweigerung für Europäer genannt werden, zeigen deutlich, wie sehr sich das Bild vom Europäer gewandelt hat, und wie wichtig ein religiöses Interpretationsmuster geworden ist: Europäer sind Feinde der Religion und Barbaren, sie gefährden die Ruhe und den Frieden des Landes und der Religion und versuchen darüber hinaus als Missionare die Einheimischen von ihrer Religion abspenstig zu machen. Dazu kommen die negativen Erfahrungen mit Ausländern, denen man freundlich begegnet war, die Furcht vor Spionage und die Furcht davor, daß den Ausländern in Tibet etwas zustoßen könne.

Mit der Abschottung nach außen findet nach und nach auch eine Verengung in der Weltoffenheit und Wahrnehmungsfähigkeit der Tibeter statt. Ihre Kenntnisse über die Welt außerhalb Tibets verschlechtern sich vom Ende des 18. Jahrhunderts an und erreichen einen Tiefpunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frederick O'Connor schreibt 1905 vom 9. Panchen Lama, daß dieser von den Dingen außerhalb Tibets keine Ahnung hatte.

Im Laufe der Krise von 1904 zeigt sich zunehmend, daß Miß- und Unverständnisse an die Stelle von emotionsloser Analyse und politischen Kalkül treten. Die militärischen Auseinandersetzungen, die mit einer verheerenden Niederlage der Tibeter enden, sind das Ergebnis eines Prozesses des Nicht-Kommunizieren-Wollens und des Nicht-Kommunizieren-Könnens. Daß auch die Engländer in dieser Situation einer Reihe von falschen Interpretationen des Verhaltens der Tibeter aufsitzen, zeigt sich nicht zuletzt an einem eher zum Schmunzeln geeigneten Beispiel nach den militärischen Auseinandersetzungen: Während Younghusband, nachdem die Briten in Lhasa einmarschiert waren, aus dem Verhalten der Tibeter zu einer Parade seiner Truppen in Lhasa Jubel und Begeisterung herausliest, gibt der Sohn von Kalon Shatra aus tibetischer Sicht eine andere Interpretation der Ereignisse: »Als die britischen Offiziere zum Jokhang und anderen Orten marschierten, waren die Einwohner Lhasas sehr mißgestimmt. Sie riefen und sangen, damit es regnete, und klatschten in die Hände, um sie zu vertreiben. In der Sitte der Ausländer wird dies als Zeichen des Willkommenheißens gesehen. So nahmen sie ihre Hüte ab und bedankten sich für den Beifall.«⁹

Wie wir gesehen haben, hat sich nicht nur das Bild des Europäers, sondern auch das Interesse der Tibeter im Verlauf der Geschichte gewandelt. Hatten wir es anfangs mit einer Ähnlichkeit betonenden kognitiven Offenheit zu tun, tritt zunehmend eine Fremdheit/Feindlichkeit betonende kognitive Abschottung hervor. Die Europäer werden von »Menschen, die allen Lebewesen Gutes tun« (so im Hinblick auf die Kapuziner), zu »Barbaren« und »Feinden der Religion«.

Doch trotz dieser selbst- und fremdauferlegten Abschließung sind die Tibeter aufgrund der Erfahrung von 1904 in der Lage, ihr Vorurteil gegenüber den Briten zu revidieren. Nachdem die Tibeter voller Erstaunen das Verhalten der Briten wahrgenommen hatten, daß sie sich sofort der tibetischen Verwundeten annahmen und sie mit aller ärztlichen Kunst behandelten, änderten sie ihre Meinung, wie das Zitat eines tibetischen Freundes von Charles Bell bestätigt: »Die Tibeter glaubten nicht, daß die Engländer Lhasa erreichen könnten. Dadurch, daß sie sich den Weg nach Lhasa erkämpften, daß sie in der Stunde des Sieges Mäßigung zeigten und ihre Truppen aus Tibet zurückzogen, namentlich aber dadurch, daß sie den Dalai Lama, ihren bisherigen Feind gut behandelten, als er etwa fünf Jahre später nach Indien floh, haben die Engländer einen großen und vorteilhaften Eindruck auf uns Tibeter gemacht. Ich bin selbst Tibeter und weiß genau, daß die Tibeter einen früheren Feind nicht so behandelt hätten«.¹⁰

Die britische Expedition wurde mit einem Frosch, der chinesische Einmarsch 1910 in Lhasa, mit einem Skorpion verglichen. Der Frosch wird wegen seines Hüpfens und seines allgemeinen Aussehens zu den wilderen Tieren gerechnet, erreicht aber den Skorpion an Wildheit nicht. Die Tibeter erinnern sich hierbei des alten Sprichworts: »Wenn man einen Skorpion gesehen hat, erscheint einem der Frosch als göttliches Wesen«.

In Lhasa wurde selbstironisch das folgende Straßenlied in Lhasa gesungen, das verblüffend treffend die neue Entwicklung charakterisiert:

Zuerst sahen wir in ihnen ›Feinde des Glaubens‹, dann betrachteten wir sie als ›Fremde‹, als wir ihre englischen Dollars sahen, nannten wir sie ›Ehrwürdige Sahib‹.¹¹


¹ Evariste-Régis Huc - Joseph Gabet: Travels in Tartary, Thibet and China, 1844-1846, London 1928, II, S. 238

² Huc - Gabet: Travels in Tartary, II, S. 260, 236

³ L. Austine Waddell: Buddhism and Lamaism of Tibet, London 1895, (repr. Delhi 1979), S. VIII-IX

⁴ Clements R. Markham: Narratives of the Mission of George Bogle to Tibet and the journey of Thomas Manning to Lhasa, London 1876 (repr. Delhi 1989), S. 84

⁵ Luciano Petech: I missionari italiani nel Tibet e Nepal, Roma 1952-1956, 7 Bde., hier: II, CL 72, S. 104

⁶ Markham: Bogle, S. 137-138

⁷ Luciano Petech: I missionari italiani, III, CR 4, S. 91

⁸ N.L. Nornang - L. Epstein: Correspondence relating to the Anglo-Tibetan war of 1888, in: The Journal of the Tibet Society 2 (1982), S. 78

⁹ Patrick French: Younghusband, London 1994, S. 242

¹⁰ Charles Bell: Tibet einst und jetzt, Leipzig 1925, S. 78-79

¹¹ Melvyn Goldstein: Straßenlieder in Lhasa, in: Tibet-Forum 4 (H.3) 1985, S. 15

Dr. Isrun Engelhardt (1941 – 2022) arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens der Universität Bonn. Ihr Hauptinteresse galt den wechselseitigen Begegnungen zwischen Tibetern und Europäern.

© Isrun Engelhardt und Tibet-Forum

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis der Autorin und Monika Deimann-Clemens. Der Beitrag erschien in TIBET-Forum 1/1999.

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Bildnachweis: © Bundesarchiv, Bild 135-S-10-03-04, Tibetexpedition, Tibetische Kinder / Schäfer, Ernst / CC-BY-SA 3.0