Dordsche Schugden und die Religionsfreiheit: Anmerkungen zu einem Konflikt

Jens-Uwe Hartmann
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Indologie und Tibetologie

In einem Tibet-Beitrag zur Panorama-Sendung vom 20.11.97 ist der Dalai Lama wegen seiner Haltung in dem Konflikt um die Schutzgottheit Dordsche Schugden (rDo-rje Shugs-ldan) angegriffen worden. Aufhänger der Sendung war der neueste Hollywood-Film über Heinrich Harrers Tibet-Aufenthalt und das dort vermittelte Tibet-Bild; die Darstellung war von dem Bestreben geprägt, den »Mythos Tibet« und besonders den »Mythos Dalai Lama« an der Realität zu überprüfen und Diskrepanzen zu zeigen. Um die Widersprüchlichkeit der Person des Dalai Lama zu beleuchten, wurde er zunächst als der weltweit hochgeachtete Friedensnobelpreisträger vorgestellt; dann sollte anhand des Schugden-Konfliktes gezeigt werden, daß sich hinter dieser Fassade noch ein ganz anderer Mensch verbirgt, der im Verein mit der tibetischen Exilregierung kompromißlos die Religionsfreiheit seiner Landsleute unterdrückt.

Die Sendung bezog ihre Wirkung aus dem geschickt aufgebauten Kontrast. Daß dieses Vorgehen vor allem darauf abzielte, beim Zuschauer Emotionen zu wecken, und weniger darauf, kritisch und emotionsfrei zu informieren, ist eine Sache; dies gilt heutzutage wohl schon für alle derartigen Magazine und sagt einiges aus über die generelle Informationskultur selbst öffentlich-rechtlicher Sendungen. Eine andere Sache war jedoch der tendenziöse Umgang mit Fakten, der auf eine möglichst sensationelle Wirkung ausgerichtet war. Obwohl den Redakteuren der Sendung Fakten und Hintergründe bekannt waren, deren Einbeziehung eine wesentlich positivere Darstellung des Dalai Lama notwendig gemacht hätte, wurden sie beiseite gelassen, um die »aufreißerische« Wirkung nicht zu gefährden. Dies ist unfairer Sensationsjournalismus.

Dalai Lama Panorama Shugden

Wie ich inzwischen aus zahlreichen Gesprächen mit Zuschauern weiß, kam es nicht nur aufgrund der Einseitigkeit, sondern auch durch die unscharfe Darstellung einzelner Sachverhalte zu Mißverständnissen. So wurde beispielsweise verstanden, der Mord an Gesche Losang Gyatsho und seinen beiden Schülern in Dharamsala zu Anfang dieses Jahres sei von der Seite des Dalai Lama verübt worden, weil man in der Sendung nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht hatte, daß der Gesche ein enger Vertrauter des Dalai Lama gewesen war und dessen Haltung im Schugden-Konflikt sehr unterstützt hatte.

Daher sind einige Worte zu diesem Konflikt, soweit er sich bisher überhaupt durchschauen läßt, offenbar überfällig. Grundsätzlich ist festzuhalten, daß religiöse Auseinandersetzungen in Tibet eine lange Tradition haben und daß bei diesen Konflikten, allen hiesigen Verklärungen Tibets zum Trotz, keineswegs immer nur die Waffen des Geistes zum Einsatz gekommen sind. Auch religiös und politisch motivierte Morde hat es in Tibet immer gegeben. Daß die Tibeter dies als einen realen Bestandteil ihrer Kultur ansehen, mag schon daraus hervorgehen, daß sie offenbar keine Mühe hatten, in dem erwähnten Mord an dem Gesche sofort einen religiös motivierten Akt zu sehen, obwohl die tatsächlichen Hintergründe dieses Verbrechen meines Wissens bis heute nicht völlig geklärt sind. Weiterhin ist festzuhalten, daß hinter den meisten vordergründig religiösen Konflikten wie auch im Westen gewöhnlich massive machtpolitische Interessen stehen. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, brauchen wir uns gar nicht in unser Mittelalter zurückzuversetzen, denn da reicht schon ein Blick ins heutige Nordirland. Dieser Blick lehrt uns dann gleich noch ein Drittes, daß es in solchen Konflikten nämlich niemals eine klare Unterscheidung zwischen Gerecht und Ungerecht, zwischen einer Seite der Guten und einer der Bösen gibt. Vielmehr handelt es sich fast immer um ein Geflecht von Wechselwirkungen, die auf beiden Seiten zur Verstrickung führen. Diese Erkenntnis ist möglicherweise lästig, weil sie uns die Möglichkeit nimmt, eindeutig für die Seite der »Guten« Stellung zu beziehen, aber sie ist wohl eine notwendige Voraussetzung, um allen Beteiligten einigermaßen gerecht zu werden. Wie kaum anders zu erwarten, spielen alle diese Aspekte auch bei der Auseinandersetzung um Dordsche Schugden eine Rolle.

Wer ist nun jener ominöse Dordsche Schugden? Bekanntlich gibt es im tibetischen Buddhismus vier Hauptschulen. Jede dieser Schulen verfügt über eigene Schutzgottheiten. Schugden fungiert als ein solcher Schutzgott fast ausschließlich für die Gelugpa-Schule (in sehr viel geringerem Maße auch für die Sakyapas). Sein Kult entstand relativ spät. Er geht zurück auf eine machtpolitische Auseinandersetzung zwischen dem 5. Dalai Lama (1617–1682) und seinem Konkurrenten Dagpa Gyeltsen (Grags-pa rgyal-mtshan), einem anderen bedeutenden Gelugpa-Gelehrten, und dessen Anhängern. Dem 5. Dalai Lama, nie zimperlich im Umgang mit seinen Gegnern, gelang es, den Streit für sich zu entscheiden, wobei Dagpa Gyeltsen starb. Es wurde die Geschichte in Umlauf gesetzt, Dagpa Gyeltsen habe schon in einer früheren Geburt den Eid abgelegt, später einmal zu einem Schutzgott der Gelugpa-Schule zu werden, und zur Erfüllung dieses Gelübdes habe er sterben müssen. Einer Version zufolge beging er Selbstmord, indem er sich mit einer Khatak, einer Glücksschleife, erstickte, einer anderen Fassung nach nahm er diese Khatak nicht ganz so freiwillig in den Mund. Nach Dagpa Gyeltsens Tod häuften sich Unglücksfälle, die ganz Zentraltibet, besonders aber auch die Regierung und sogar den Dalai Lama betrafen. Bald erkannte man, daß hier der Verstorbene in Gestalt eines rachesuchenden Dämonen weiter wirkte. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es schließlich, diesen Geist zu befrieden; wie im tibetischen Buddhismus üblich, wurde er durch einen Eid verpflichtet, fortan als eine Schutzgottheit zu wirken.

Unabhängig von der historischen Richtigkeit der Einzelheiten zeigen sich bereits in der Entstehungsgeschichte zwei wesentliche Elemente, die den Schugden-Kult bis heute begleiten, nämlich eine potentielle Aggressivität und ein latenter Gegensatz zur Regierung und zur Person des Dalai Lama. Diese Elemente haben schon in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten zwischen Schugden-Anhängern und Schugden-Gegnern innerhalb der Gelugpa-Schule geführt. Ähnliche Konflikte hat es aber auch zwischen Gelugpas und Angehörigen der anderen Schulen, besonders der Nyingmapas, gegeben. In Tibet flackerte ein solcher Konflikt zuletzt Anfang unseres Jahrhunderts auf, als Phabongkhapa (1878–1941), ein bedeutender Gelugpa-Lama, einige Zeit in Kham (Osttibet) verbrachte, dort Nyingmapa-Kreise verfolgte und offenbar an der Zerstörung wenigstens eines Klosters beteiligt war. Jener Lama, dessen Verdienste auf anderen Gebieten ganz unbestreitbar sind, war sowohl politisch wie religiös ein durchaus militanter Vertreter der Sache der Gelugpas und gleichzeitig ein überzeugter Anhänger von Dordsche Schugden. Die meisten heutigen Anhänger dieser Gottheit führen ihre Meditationspraxis unmittelbar auf jenen Lama oder dessen Hauptschüler zurück. Spätestens mit Phabongkhapa gerät der Schugden-Kult in Gefahr, sektiererische Züge anzunehmen, die eine Priorität der Gelugpa-Lehren vor allen anderen buddhistischen Traditionen in Tibet zum Ziel haben.

Ein weiterer, ebenfall schon in der Entstehungsgeschichte begründeter Antagonismus besteht zwischen Schugden und Pehar, derjenigen Schutzgottheit, die sich in dem traditionellen tibetischen Staatsorakel des Netschung-Klosters manifestiert. Pehar wird zwar als eine Schutzgott aller Schulen des tibetischen Buddhismus verstanden, aber das Orakel selbst zählt zur Schule der Nyingmapas. Die Regierung allerdings wurde seit rund dreihundert Jahren von Kreisen beherrscht, die der Gelugpa-Schule unmittelbar angehörten oder ihr nahestanden. Diese Gelugpa-Dominanz der politischen Macht hat sich auch im Exil noch nicht grundlegend geändert. Da Schugden über eigene Orakel verfügt, wollen seine Anhänger heute das Netschung-Orakel abgelöst und ersetzt sehen, und daraus ergibt sich ein weiterer Problemkreis in dem aktuellen Konflikt.

Keineswegs alle Gelugpa-Mönche sind Anhänger von Dordsche Schugden, und keineswegs alle Schugden-Anhänger sind militant; die Verbindung mit dieser Schutzgottheit birgt aber ein beständiges Konfliktpotential für Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Gelugpas als auch zwischen den Gelugpas und den anderen Schulen des tibetischen Buddhismus. Dabei ist die Tatsache, daß Schugden eben gerade keine Schutzgottheit für den gesamten tibetischen Buddhismus darstellt, sondern von Anhängern der anderen Schulen zum Teil sogar vehement abgelehnt wird, von größter Wichtigkeit für ein Verständnis des Dilemmas, in dem sich der Dalai Lama heute befindet. Dieser Umstand wurde jedoch in der Panorama-Sendung mit keinem einzigen Wort erwähnt. Der Dalai Lama selbst zählt nämlich ebenfalls zu den Gelugpas; wenn er nun bemüht ist, jenen Kult zurückzudrängen oder sogar zu einem Ende zu bringen, dann lassen sich seine Absichten auch völlig anders interpretieren, als dies in der Panaroma-Sendung geschehen ist. Sie können dann nämlich auch so verstanden werden, daß er den Ausgleich zwischen den verschiedenen Schulen als ein oberstes Gut ansieht, statt im Stile eines Parteipolitikers ausschließlich seine eigene Schule zu begünstigen, und daß er sogar bereit ist, für dieses Ziel den Preis eines massiven Konfliktes innerhalb seiner eigenen Schule zu bezahlen. Gerade damit aber löst er seinen erklärten Anspruch ein, der Dalai Lama aller Tibeter zu sein.

Obwohl den Redakteuren bekannt, ist dieser Aspekt in der Panorama-Sendung völlig ausgeklammert worden; er wäre wohl zu wenig sensationell gewesen, und die Frage der Fairness einer Darstellung mußte offenbar hinter ihrer Publikumswirksamkeit zurücktreten.

Problematisch sind freilich die Maßnahmen, mit denen derzeit von Regierung und Dalai Lama versucht wird, Schugden-Anhänger zur Abkehr von ihrer Schutzgottheit zu bewegen. Wenn etwa in den großen Gelugpa-Klöstern in Indien Unterschriftenlisten herumgehen, auf denen die Abkehr von Schugden bestätigt werden soll, so ist dies eine Art von Gesinnungsschnüffelei, die man keineswegs billigen kann. Ebenso problematisch wirkt das Teilnahmeverbot für Schugden-Anhänger an bestimmten religiös wichtigen Veranstaltungen des Dalai Lama. Beides erzwingt öffentlich sichtbare Entscheidungen und führt bei einer Verweigerung zur Ausgrenzung und sogar zur Ächtung. Dabei ist zu bedenken, daß die regelmäßige Praxis einer tantrischen Meditationsgottheit nicht beliebig aufgegeben werden kann, wenn der Praktizierende die damit verbundenen Verpflichtungen ernst nimmt. Schugden-Anhänger haben die Praxis von ihren jeweiligen Lamas, ihren spirituellen Lehrern, erhalten. Nun nimmt der persönlichen Lehrer schon im Mahayana-Buddhismus, erst recht aber im Tantrayana, einen ganz besonderen Rang ein; er wird als identisch mit dem Buddha gesehen. Wenn man dies bedenkt, dann versteht man, daß jeder ernsthafte Mönch Skrupel haben muß, solche Anweisungen seines Lehrers einfach abzulegen, und sei es auch auf Geheiß des Dalai Lama. Diese Haltung ist ganz unabhängig davon, welcher Schule er angehört oder welchen Meditationsgottheiten er folgt. Hinzu kommt, daß die Unterbrechung oder gar Aufgabe von tantrischen Verpflichtungen als potentiell gefährlich für die körperliche und geistige Gesundheit des Praktizierenden angesehen werden. Wenn man ihn daher vor die Entscheidung stellt, entweder dem Wunsch des Dalai Lama zu folgen oder die von seinem eigenen Lehrer empfangene religiöse Praxis weiterzuführen, dann gerät er unausweichlich in einen Loyalitätskonflikt, der, wie man gegenwärtig unter den Gelugpa-Mönchen sieht, zu ganz unterschiedlichen Lösungsversuchen führt. Dazu zählt eben auch die offene Abkehr vom Dalai Lama und die Aneignung des Argumentes von der unterdrückten Religionsfreiheit nach dem Muster »Wir sind nicht wegen der Unterdrückung unserer Religion durch die Chinesen ins Exil gegangen, um dort dann von den eigenen Leuten genauso unterdrückt zu werde.«

Wie immer die Maßnahmen der offiziellen Kreise in Dharamsala zu bewerten sein mögen, ist die Behauptung, daß die Religionsfreiheit unterdrückt werde, übertrieben, und aus dem Munde von Exiltibetern wirkt sie geradezu lächerlich, wenn man dazu diejenige Form von Unterdrückung vergleicht, die in Tibet tagtäglich geschieht. Kein Dalai Lama hat wirkliche dogmatische Befugnisse, und die Möglichkeiten machtpolitischer Maßnahmen des jetzigen Dalai Lama sind aufgrund der Exilsituation so begrenzt, daß im wesentlichen nur die beschriebenen Versuche bleiben, Gruppensolidarität mit seiner Autorität herzustellen und »Abweichler« auf diese Weise zum Vorschein zu bringen und zu isolieren.

Ich betrachte den gegenwärtigen Ausbruch des Konfliktes mit größter Sorge. Er droht die Gelugpa-Schule zu spalten, und angesichts der zunehmenden Polarisierung und Radikalisierung der Standpunkte sind weitere Gewalttaten nicht auszuschließen. Kann er jetzt nicht gelöst werden, dann wird er weiterhin das Verhältnis zwischen Teilen der Gelugpas und den anderen Schulen belasten. Anders als in den siebziger Jahren, als der Konflikt unter den Exiltibetern in Indien schon einmal aufgeflammt, aber eine innertibetische Angelegenheit geblieben war, ist er nun in den Westen gelangt. Hier wird man ihn, wie in der Panorama-Sendung zu beobachten, auf jede erdenkliche Weise publizistisch ausschlachten. Dies wird nicht nur das Ansehen des Dalai Lama beeinträchtigen, sondern auch der tibetischen Sache insgesamt schaden.

Wenn man daher hört, daß die chinesischen Besatzer in Tibet neuerdings den Schugden-Kult offiziell fördern, dann sollte dies allen Beteiligten sehr zu denken geben. Nichts könnte deutlicher machen, daß den heutigen Herren in Tibet die Sprengkraft des Konfliktes nicht verborgen geblieben ist und daß sie darin ein geeignetes Mittel erkannt haben, den Dalai Lama, ihren erklärten Hauptwidersacher in der Auseinandersetzung um eine echte Autonomie Tibets, im Westen ins Zwielicht zu rücken und seine Anhänger zu spalten. Trotz eines kurzen Hinweises auf diesen Sachverhalt am Ende der Sendung hat auch Panorama letztlich solche chinesischen Interessen bedient.

Ich selbst bin in der Sendung ebenfalls interviewt worden, allerdings nicht zu Dordsche Schugden. Obwohl ich zu jeder meiner Äußerungen stehen kann, fühle ich mich mißbraucht, denn im Bewußtsein der meisten Zuschauer werden nicht meine Worte, sondern meine Verbindung mit einer Sendung in Erinnerung bleiben, in der man den Dalai Lama auf eine Weise angegriffen hat, die ich als Mensch und als Wissenschaftler nur mit Nachdruck ablehnen kann.  ■

Prof. Dr. Jens-Uwe Hartmann war von 1995-1999 Professor für Tibetologie an der Humboldt-Universität in Berlin und ist seit 1999 Professor für Indologie und Tibetologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hält den Lehrstuhl für Indologie und ist Prodekan der Fakultät für Kulturwissenschaften.

© Jens Uwe Hartmann und Tibet-Forum

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Jens Uwe Hartmann und Monika Deimann-Clemens (TIBET-Forum). Der Beitrag erschien in TIBET-Forum Nr. 3/97, S. 6–8; die Panorama-Sendung lief am 20. November 1997 in der ARD.