Religion und Öffentlichkeit in der tibetischen Exilgesellschaft

Karénina Kollmar-Paulenz,
Universität Bern (Schweiz)

Zusammenfassung:

Anhand der „Shugden-Affäre“, einer religiösen Kontroverse, die die tibetische Exilgesellschaft spaltet, wird in dem Beitrag gezeigt, dass die Beziehung zwischen Religion als Ausdruck privater Autonomie und ihrer öffentlichen Inszenierung als Symbol nationaler Einheit ein beträchtliches Konfliktpotentiall für die Institution der Dalai Lamas enthält. Die im Exil entwickelte tibetische Form der Demokratie zwingt dazu, die Grenzen zwischen privater religiöser Freiheit und ihrer öffentlichen symbolischen Repräsentation immer wieder neu auszuhandeln.

Summary:

Religion is present in the Tibetan public sphere, and that first of all as a public performance. In the Tibetan government in exile, “state” and religion thus relate to each other in a way which is unfamiliar to us. In contrast to the perception of others, Tibetan societies are characterized by great internal religious diversity as well as by a plurality of religious denominations. Using the “Shugden Affair”, a religious controversy which is splitting the Tibetan government in exile, this contribution shows that the relationship between religion as an expression of private autonomy and its public staging as a symbol of national unity holds considerable potential for conflict for the institution of the Dalai Lama. The Tibetan form of democracy developed in exile necessitates a constant renegotiating of the boundaries between private religious freedom and its symbolic public representation.

1. Einleitung

Während das vermehrte öffentliche Auftreten von Religionsgemeinschaften und die stärkere Präsenz religiöser Diskurse in Europa teilweise mit Erstaunen registriert werden, da sich „ein moderat säkulares Selbstverständnis ausgebreitet hat“, ist dies in der tibetischen Exilgesellschaft anders. Religion ist in der tibetischen Öffentlichkeit präsent, und zwar zuerst als öffentliche Inszenierung. So kommt in der tibetischen Exilregierung dem ehrwürdigen Thubten Nödrub¹ (Thub bstan dngos grub), dem derzeitigen Nechung Kuten (gNas chung sku rten), dem „Medium von Nechung“, der Rang eines stellvertretenden Ministers zu. In dem „Medium von Nechung“, im Westen besser unter der Bezeichnung „Staatsorakel von Tibet“ bekannt, nimmt zeitweise Dorje Dragden (rDo rje grags Idan), die wichtigste Schutzgottheit der tibetischen Zentralregierung, Besitz. Das Nechung Medium tritt einmal im Jahr öffentlich auf, am 10. Tag des ersten tibetischen Monats. Darüber hinaus kann es jederzeit in einer Krisensituation einberufen werden, so vom Dalai Lama selbst, aber auch vom Kashag, dem Kabinett der Minister in der tibetischen Exilregierung, von den großen Klosterinstitutionen Sera, Drepung und Ganden sowie von anderen Klöstern.

Die öffentliche Inszenierung von Religion im exil-tibetischen Kontext lässt sich auf einer strukturellen Ebene mit der öffentlichen Inszenierung einer katholischen Messe durch hohe geistliche Würdenträger in einem europäischen Land vergleichen. In beiden Fällen handelt es sich um Formen repräsentativer Öffentlichkeit. Es gibt jedoch einen – ebenfalls strukturellen – Unterschied: Gewöhnlich sind Mitglieder der Landesregierung als politische Funktionsträger in solche religiösen Inszenierungen nicht direkt involviert. Wohnen sie einer Messe bei, so tun sie dies entweder in ihrer Funktion als Repräsentanten des Staates oder aber als Privatpersonen. Anders im vormodernen Tibet und in der modernen tibetischen Exilgesellschaft: Der Auftritt des Mediums von Nechung vollzieht sich zum einen im Rahmen der Neujahrsfeierlichkeiten, die von der Regierung inszeniert werden, und zwar im öffentlichen Raum, zum anderen im Kontext einer demokratisch gewählten Regierung, in der dem Medium von Nechung eine spezifische Funktion zugewiesen wird. Staat und Religion sind also in für uns ungewohnter Weise in der tibetischen Exilgesellschaft aufeinander bezogen. Diese Bezogenheit hat Auswirkungen auf religiöse Diskurse in der tibetischen Öffentlichkeit. In dem folgenden Beitrag soll am Beispiel der Rolle, die tibetische Schutzgottheiten in der tibetischen Exilgesellschaft und in der demokratisch gewählten Exilregierung spielen, ein Aspekt im Spannungsfeld von Religion und Öffentlichkeit in der tibetischen Exilgesellschaft untersucht werden, und zwar die Frage der Religionsfreiheit, oder genauer, der Freiheit des oder der Einzelnen hinsichtlich seiner oder ihrer religiösen Praxis.

2. Religiöse Pluralität in tibetischen Gesellschaften

Auf den ersten Blick mag gerade die Frage der Religionsfreiheit nebensächlich erscheinen, da die tibetische Gesellschaft aus einer Außenperspektive als erstaunlich homogen in Bezug auf die Religionszugehörigkeit wahrgenommen wird. Stets wird davon ausgegangen, dass die Tibeter allesamt Buddhisten seien, und die Frage der individuellen Religionsfreiheit, wie sie sich in kulturell heterogenen Gesellschaften zwingend stellt, sei daher gar nicht relevant. Dies ist jedoch eine Außenwahrnehmung, die der komplexen Realität in tibetischen Gesellschaften nicht entspricht. Tibetische Gesellschaften zeichnen sich einerseits durch eine große binnenreligiöse Diversität aus, zum anderen durch eine Pluralität der Religionsgemeinschaften. Es sei hier nur an die tibetischen Muslime erinnert, die seit dem 17. Jahrhundert in den städtischen Zentren Tibets wie Lhasa oder Shigatse eine feste Gemeinschaft bildeten.² In Lhasa gab es vor 1959 vier Moscheen sowie einen muslimischen Friedhof, der unter dem 5. Dalai Lama im 17. Jahrhundert angelegt worden war. In Shigatse wurden zwei Moscheen errichtet. Der 5. Dalai Lama gewährte den Muslimen, ihre Angelegenheiten nach islamischen Recht selbst zu regeln. Sie unterstanden nicht der tibetischen Gerichtsbarkeit, hatten eine eigene Verwaltung und waren von Steuerabgaben befreit. Muslime mussten sich nicht vor tibetischen geistlichen Würdenträgem verneigen und waren auch von dem Verbot, während bestimmter Perioden im Jahr Fleisch zu sich zu nehmen, ausgenommen. Diese im 17. Jahrhundert gewährten und schriftlich fixierten Privilegien waren bis 1959 gültig. Ein Teil der muslimischen Gemeinschaft floh 1959 aus Tibet und etablierte sich im Exil neu.³ Die meisten ließen sich in Kaschmir nieder, woher ihre Vorfahren stammten. Von den insgesamt circa 125.000 Exiltibeterinnen und -tibetern sind ungefähr 2.000 islamischen Glaubens. Sie haben gute Beziehungen zur übrigen islamischen Welt, erhalten von dort auch finanzielle Unterstützung, besonders aus Saudiarabien, aber zugleich sind sie eingebunden in die tibetische Exilgesellschaft, wie die verschiedenen Institutionen, in denen sie sich organisiert haben, so die Tibetan Muslim Refugee Welfare Association, die Tibetan Muslim Youth Association und andere mehr bezeugen. Auf der Homepage des Tibetan Government in Exile wird die muslimische Gemeinschaft sehr ausführlich dokumentiert.⁴

Neben dem Islam ist ebenfalls das Christentum in seinen unterschiedlichen Denominationen in tibetischen Gesellschaften präsent. Darüber hinaus gibt es die Minorität der Anhängerinnen und Anhänger der tibetischen Bon-Religion,⁵ die sich selbst als von der tibetisch-buddhistischen Mehrheitsgesellschaft distinkte Religionsgemeinschaft verstehen. Es scheint also, als ob die Zugehörigkeit zu einer anderen als der buddhistischen Religion in tibetischen Gesellschaften nicht problematisch ist, und es kann der Schluss gezogen werden, dass sowohl im Tibet vor 1950 als auch in der exiltibetischen Gesellschaft faktische Religionsfreiheit herrschte und herrscht. Das Recht auf Freiheit der Religion wird explizit in Artikel 10 der Charta der tibetischen Exilgemeinschaft festgehalten:

All religious denominations are equal before the law. Every Tibetan shall have the right to freedom of thought, conscience and religion. These religious rights include the freedom to manifest one’s belief, to receive initiation into religious traditions, practice with matters relating to religious commitment, such as preaching and worship of any religion, either alone or in community with others.⁶

Dieser Artikel sichert die private Autonomie des Einzelnen bezüglich der Wahl seiner Religion. Trotzdem hat gerade die Religionspolitik der tibetischen Exil-Regierung in den letzten Jahren wiederholt negative Schlagzeilen gemacht, und zwar in Bezug auf eine religiöse Kontroverse, die seit mehr als zehn Jahren unvermindert heftig ausgetragen wird. Die so genannte „Shugden Affäre", auf die später noch ausführlich eingegangen werden wird, begann in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts und eskalierte in den neunziger Jahren mit gewalttätigen Ausschreitungen. Sie spaltet noch heute die tibetische Exilgesellschaft. Die Beziehung zwischen Religion als Ausdruck privater Autonomie und Öffentlichkeit in der tibetischen Exilgesellschaft ist also nicht so unproblematisch, wie es auf den ersten Blick erscheint.

3. Öffentlichkeit

Wenn ich von der Beziehung zwischen Religion und Öffentlichkeit im Kontext der tibetischen Exilgesellschaft spreche, muss zuerst geklärt werden, was unter „Öffentlichkeit“ zu verstehen ist. Das zurzeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften vorherrschende Verständnis von Öffentlichkeit ist entscheidend von Jürgen Habermas geprägt worden, der in seiner Herausarbeitung eines Idealtypus von „Öffentlichkeit“ den Begriff als einen epochenspezifischen etabliert hat.⁷ Öffentlichkeit wird damit zu einem ausschließlich europäischen Konzept, dessen Entstehung in das 18. Jahrhundert datiert wird. Habermas’ Konzept ist oft kritisiert worden, und die bekannten Einwände müssen hier nicht wiederholt werden.⁸ Die von Habermas vorgenommene Betonung eines vernünftigen, rationalen und herrschaftsfreien Diskurses als Kernpunkt moderner Öffentlichkeit, die andere Formen von Kommunikation an den Rand drängt beziehungsweise ganz ausklammert,⁹ lässt sich nur schwer auf tibetische Gesellschaften übertragen, deren Verständnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit stark von Herrschaftsstrukturen geprägt ist.¹⁰

Im Gegensatz zum Habermas’schen Begriff von Öffentlichkeit erscheint mir als Ausgangspunkt, tibetische Vorstellungen von privatem und öffentlichem Raum zu analysieren, das von Reinhart Koselleck entwickelte Konzept geeigneter. Für Koselleck ist Öffentlichkeit das „Endprodukt“ einer im 18. Jahrhundert begonnenen Entwicklung, in der eigentlich private und geheime Innenräume, in die die Intellektuellen durch die Politik des absolutistischen Staates gedrängt wurden, in die Gesellschaft expandierten. Erst die während der Aufklärung einsetzende „Veröffentlichung“ dieser privaten Räume hat laut Koseileck zur Ausbildung von Öffentlichkeit geführt.¹¹ Die historische Entstehung des Konzeptes von Öffentlichkeit impliziert damit die faktische Verschränkung des Privaten und Öffentlichen: „Privatraum und Öffentlichkeit schließen sich so wenig aus, als dass vielmehr diese aus jenem hervorgeht.“¹²

Öffentlichkeit wird hier nicht nur als eine Sphäre von Kommunikation verstanden, sondern sie manifestiert sich stets im Raum. Damit rücken auch die Akteure in den Fokus des Öffentlichkeitsbegriffs. Zur Konstituierung von Öffentlichkeit sind stets Akteure notwendig, die durch ihre körperlichen oder symbolischen Auftritte öffentlichen Raum erst herstellen.¹³ Öffentlichkeit und die in ihr handelnden Akteure, Öffentlicher Raum und die in ihm stattfindenden Handlungen sind damit untrennbar. Öffentlichkeit wird erst hergestellt durch den Auftritt und die Handlungen konkreter Akteure. Indem der Begriff der Öffentlichkeit räumlich und performativ definiert wird, wird er anwendbar für andere kulturelle Räume als Europa. Als Beispiel für eine solcherart hergestellte Öffentlichkeit in Tibet vor 1950 sollen hier die yiggyur (yig ‘gyur) genannt werden, Wandposter, die an den Wänden von Gebäuden in Lhasa in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts auftauchten und Spottverse über den umstrittenen Regenten Reting Rinpoche (Rva sgreng rin po che) enthielten.¹⁴ Die Akteure dieses sich öffentlich formierenden Protestes, der sich auch in Protestliedern gegen den Regenten manifestierte, waren Laienbeamte der Zentralregierung, unter ihnen Gachang Temba (dGa’ byang bstan pa), ein naher Verwandter des hohen Beamten Khyungram (Khyung ram), der auf die Initiative Retings hin aller seiner Ämter enthoben und nach Westtibet in die Verbannung geschickt wurde. Gachang Temba verfasste ein Wandposter, in dem er an die Zentralregierung appellierte, ihn selbst nicht zu exilieren. Der Appell blieb ohne Erfolg.¹⁵

Der öffentliche Raum zeichnet sich durch die gleichzeitige „Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven, in denen ein Gemeinsames sich präsentiert“,¹⁶ aus. Er konstituiert sich erst in der Artikulation seiner inneren Differenzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass per se alle Akteure an ihm partizipieren können und eine Symmetrie der Beziehungen aller in ihm auftretenden Akteure besteht. Häufig werden Gruppen aus ihm ausgeschlossen. So partizipierte, wie wir am Beispiel der Wandposter in Lhasa gesehen haben, in Tibet vor 1950 lediglich die kleine Gruppe der sozio-religiösen Eliten am öffentlichen Diskurs, während die Mehrzahl der Bevölkerung nicht an ihm teilnahm beziehungsweise sogar von ihm ausgeschlossen war.¹⁷ Dies hat sich heute geändert. In der exiltibetischen Gesellschaft wird Öffentlichkeit tatsächlich immer mehr konstituiert durch die Partizipation der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft und nicht mehr nur durch die Eliten. Aber die in der Exilgesellschaft geschaffene breitere Basis impliziert noch nicht, dass nicht einzelne Gruppen aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen werden beziehungsweise dass ein solcher Ausschluss versucht wird. Die Konstituierung des öffentlichen Raums in den performativen Inszenierungen religiöser Akteure und die hieraus folgende Interdependenz beziehungsweise Durchlässigkeit zwischen religiöser und politischer Sphäre, die besonders prägnant in der Stellung des Mediums von Nechung zum Ausdruck kommt, führen zu einer Durchlässigkeit von privatem und öffentlichem Raum, die die Exklusion beziehungsweise den Versuch der Exklusion einzelner Gruppen und Akteure aus dem öffentlichen Raum zur Folge hat. Der öffentliche Raum als Inszenierungs- und Austragungsort der Kontroverse, die um die umstrittene Schutzgottheit Dorje Shugden ausgebrochen ist, ist zudem vor allem im Internet medial konstruiert. In diesem virtuellen Raum wird eine diskursive Realität erzeugt, die die Sphären des Privaten und des Öffentlichen nicht mehr unterscheidbar macht. Foucaults Aussage, ein Diskurs sei keine „Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts“, wird hier insofern vergegenständlicht, als die Diskurse, aus denen sich Öffentlichkeit konstruiert, oft nicht mehr einem oder mehreren Sprechern zugeordnet und zudem Ereignis und Fiktion nicht mehr voneinander unterschieden werden können. Das Internet verändert unsere Vorstellungen von Öffentlichkeit, es entgrenzt zuvor klar lokalisierte Räume und lässt virtuelle öffentliche Räume immer mehr zu Extensionen privater Räume werden. Es wird damit auch immer mehr zum Aushandlungsort kultureller und religiöser Differenzen, die von lokalen und globalen Diskursen gleichermaßen beeinflusst sind. Gerade die öffentliche Sichtbarmachung binnenkultureller Differenz, in der Religion als Instrument politischer Partizipation eingesetzt wird, fordert aber eine Reaktion der exiltibetischen Regierung heraus, die einerseits zwar durch Wahl demokratisch bestätigt ist, andererseits aber zur Legitimierung politischen Handelns auf religiöse, buddhistische Deutungsmuster zurückgreift. In der Folge kommt es zum Versuch einer Einschränkung der binnenreligiösen Religionsfreiheit, die mit den Auswirkungen privater religiöser Praktiken im öffentlichen Raum begründet wird. Dies soll im Folgenden anhand einer Analyse der Shugden-Kontroverse aufgezeigt werden.

4. Die weltlichen Schutzgottheiten im tibetischen Buddhismus

Dorje Shugden ist eine so genannte „weltliche Schutzgottheit“ (tib. ‘Jig rten gyi srung ma). Das Konzept der Schutzgottheiten findet sich im gesamten tibeto-mongolischen Kulturraum und ist in der Vorstellung begründet, dass nicht nur Tiere und Menschen die Welt bevölkern, sondern auch andere, den Menschen zwar nicht sichtbare, aber mit ihnen agierende Lebewesen wie Geister, Dämonen und Gottheiten. Mit der Übernahme des Buddhismus im 7. Jahrhundert wurden die autochthonen Geister und Gottheiten buddhisiert, indem sie „gezähmt“ wurden, wie es im Tibetischen heißt. Das bedeutet, dass sie rituell unterworfen wurden von buddhistischen tantrischen Meistern, allen voran dem tibetischen Kulturheros Padmasambhava, der hier eine überragende Rolle spielt. Die Zähmung der lokalen Gottheiten erklärt in mythischer Sprache die rituelle und symbolische Transformation des tibetischen Raumes. Tibet wird von einer Wildnis, die sich in den Fängen schrecklicher Dämoninnen und Dämonen befindet, in die Gartenlandschaft eines Buddhafeldes transformiert. Die Dämoninnen und Dämonen werden durch einen Eid gefügig gemacht, der sie zu Beschützern (tib. srung ma) der buddhistischen Lehre verpflichtet. Die buddhistische Missionierung Tibets wurde damit nicht in erster Linie auf der diskursiven Ebene, sondern auf der visuell-räumlichen und der rituellen Ebene vorangetrieben.

Die weltlichen Schutzgottheiten sind ursprünglich autochthone Gottheiten, die nun die „Feinde der buddhistischen Lehre“ abwehren. In tibetischen Gesellschaften besteht generell Konsens darüber, dass diese weltlichen Schutzgottheiten genauso wie Menschen von ihren Emotionen abhängig sind. Da Emotionen wie Zorn oder Hass große Kräfte verleihen können, macht diese Qualität die Schutzgottheiten mächtig, aber sie macht sie auch unberechenbar. Die Schutzgottheiten müssen daher den Menschen gegenüber günstig gestimmt werden. Der Glaube an die Mächtigkeit und potentielle Gefährlichkeit der Schutzgottheiten ist auch heute noch sehr präsent, und wir werden sehen, dass dieser Glaube auch in der Auseinandersetzung mit der Schutzgottheit Dorje Shugden eine wichtige Rolle spielt.

5. Der Konflikt um Dorje Shugden

Dorje Shugden reiht sich zusammen mit Dorje Dragden und anderen, hier nicht genannten Gottheiten, ein in die Gruppe derjenigen Gottheiten, die von Zeit zu Zeit in einem Medium Einsitz nehmen. Auch das Medium des Dorje Shugden ist in der Vergangenheit von der tibetischen Zentralregierung in Anspruch genommen worden. Im Frühjahr 1996 bat jedoch der 14. Dalai Lama sämtliche Anhängerinnen und Anhänger der Schutzgottheit, von einer Verehrung beziehungsweise Günstigstimmung dieser Gottheit abzusehen. Wer die Praxis der Shugden-Verehrung nicht aufgebe, möge in Zukunft keine tantrischen Ermächtigungen mehr vom Dalai Lama entgegennehmen. Nach dieser Grundsatzrede zur Shugden-Verehrung ging die Exilregierung daran, die Weisung in den einzelnen tibetischen Settlements in Indien umzusetzen. Über die Art dieser Umsetzung wird heftig gestritten, und aus einer Außenperspektive ist nicht zu beurteilen, ob die erhobenen Vorwürfe zutreffend sind oder nicht. Shugden-Anhängerinnen und -anhänger behaupten, die tibetische Exilregierung habe versucht, mit Drohungen und Gewalt die Shugden-Verehrung zu unterbinden, und belegen diese Vorwürfe mit ins Internet gestellten Photo-Aufnahmen verletzter Mönche¹⁸ aus dem Sera-Kloster in Südindien, einer Hochburg der Shugden-Verehrung, und anderer Klöster. Die tibetische Exil-Regierung hingegen streitet jegliche Gewaltanwendung ab, erklärt die Photos für Fälschungen und unterstellt ihrerseits der Shugden-Anhängerschaft Militanz. 1997 erreichte die Kontroverse ihren Höhepunkt mit der brutalen Ermordung des Leiters der Buddhist School of Dialectics und zwei seiner Mönche in Dharamsala, dem Sitz der Exilregierung in Indien. Der ermordete Lama war einer der profiliertesten Gegner der Schutzgottheit, und daher wurden schon am Tag nach dem Mord Vorwürfe gegen die in New Delhi ansässige Shugden-Gesellschaft laut. Man vermutete, dass die Mörder in den Reihen der Shugden-Anhängerschaft zu suchen waren, ein Verdacht, der noch heute auf der Homepage der Exilregierung aufrechterhalten wird und inzwischen auch Interpol beschäftigt.¹⁹ Der Konflikt wird also von beiden Seiten, den Befürwortern wie den Gegnern, hochgradig emotionsgeladen ausgetragen, und er zeigt eine hohe Gewaltbereitschaft beider Seiten. Darüber hinaus spielen westliche buddhistische Gruppen eine bedeutende Rolle in der Auseinandersetzung, vor allem in England, aber auch in der Schweiz. Hier ist vor allem die New Kadampa Tradition (NKT) zu nennen, eine von Geshe Kelsang Gyatso neu gegründete tibetisch-buddhistische Lehrtradition, in der Dorje Shugden eine prominente Rolle spielt. Die NKT ist mit mehr als 900 Zentren weltweit eine der erfolgreichsten tibetisch-buddhistischen Gruppierungen in der westlichen Welt.²⁰

In der Tibetologie ist die Shugden-Kontroverse nur am Rande behandelt worden.²¹ Dies verwundert nicht, da das Thema emotional aufgeladen ist und häufig völlig unklar bleibt, welche Anschuldigungen aus der Luft gegriffen sind, außer man ist selbst Augenzeuge des Geschehens gewesen. Die tibetische Exilgesellschaft ist inzwischen tief gespalten in Bezug auf die Schutzgottheit Dorje Shugden.

Für Außenstehende ist die Heftigkeit, mit der die Kontroverse ausgefochten wird, schwer verständlich. Ebenso wenig ist klar, warum der 14. Dalai Lama sich explizit gegen die Verehrung von Dorje Shugden ausgesprochen hat. Seine Grundsatzrede im Frühjahr 1996 ist von den Anhängerinnen und Anhängern von Dorje Shugden wie auch von den westlichen Medien als Verbot der Shugden-Verehrung verstanden worden und hat in Indien und Europa zu Demonstrationen für die Wahrung der Religionsfreiheit geführt. Die Aussage des Dalai Lama wurde damit als Verletzung des in der Charta der Exilregierung garantierten Rechts auf Freiheit der Religionsausübung verstanden.

Hier sei jedoch bemerkt, dass der Dalai Lama nicht ein direktes Verbot der Shugden-Praxis ausgesprochen hat, sondern Handlungsanweisungen erteilt hat, die er in einen weiteren Mahyānā-buddhistischen Begründungskontext eingebettet hat. Zuerst führte er aus, dass alle Menschen grundsätzlich das Recht haben, eine Gottheit ihrer Wahl zu verehren und sie günstig zu stimmen. In der freien, individuellen Wahl des Guru und der Lehrtradition wird das Recht auf freie Religionsausübung in den tibetisch-buddhistischen Traditionen konkretisiert. Dann jedoch sprach der Dalai Lama eine Empfehlung aus für alle, die ihn selbst als ihren Guru anerkennen und für die Befreiung Tibets von der chinesischen Besatzung kämpfen, die Verehrung dieser Schutzgottheit aufzugeben. Diejenigen, die seiner Empfehlung nicht folgten, bat er, von ihm selbst keine tantrischen Ermächtigungen mehr entgegenzunehmen. Tantrische Ermächtigungen setzen eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung voraus. Ein Schüler muss alles tun, was sein Lehrer von ihm verlangt. Daher muss ein Schüler des Dalai Lama die Shugden-Verehrung unterlassen, wenn dieser es von ihm verlangt.

Der Dalai Lama hat in seiner Begründung jedoch nicht nur die Lehrer-Schüler-Beziehung angesprochen, die individuell ist und in den privaten Raum gehört, sondern er hat auch den kollektiv geführten Kampf um die tibetische Unabhängigkeit angeführt. Damit hat er einer eigentlich privaten religiösen Praxis Relevanz im öffentlichen Raum zugesprochen.

Anhand der Shugden-Kontroverse werden die Grenzen der individuellen Religionsfreiheit gegenüber einem in religiösen Parametern fundierten Gemeinwohl in der tibetischen Exilgesellschaft exemplarisch ausgehandelt. Ein solcherart religiös fundiertes Gemeinwohl wiederum trägt entscheidend zur kollektiven tibetischen Identitätsbildung bei. Daher müssen zuerst die historischen Hintergründe der Kontroverse analysiert werden.

6. Die Zähmung eines unbeugsamen Rivalen: Dragpa Gyeltsen²² und der 5. Dalai Lama

Die Anfänge der Shugden-Verehrung sind in einem historischen Mythos begründet.²³ Als der 4. Dalai Lama im Jahr 1616 verstarb, gab es zwei ernsthafte Anwärter auf seine Nachfolge, den 1617 geborenen Ngawang Lobzang Gyatso (Ngag dbang blo bzang rgya mtsho) und den 1618 geborenen Dragpa Gyeltsen. Der erstgenannte wurde als die rechtmäßige Wiedergeburt des 4. Dalai Lama eingesetzt, während Dragpa Gyeltsen als Wiedergeburt des Panchen Sönam Dragpa (Pan chen bSod nams grags pa) anerkannt wurde. Die Gelugpa-Geistlichkeit suchte wohl auf diese Weise einen sich anbahnenden Konflikt zwischen den beiden Anwärtern auf die Würde des Dalai Lama schon im Keim zu ersticken. Die Rivalität der beiden Lamas konnte jedoch nicht beigelegt werden, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch die historischen Quellen jener Zeit, und sie endet mit dem plötzlichen Tod des Dragpa Gyeltsen im Jahr 1655. Er starb eines unnatürlichen Todes, entweder durch Mord von Seiten der Anhänger des 5. Dalai Lama, oder durch Selbsttötung. Die fundierende Legende lautet, dass Dragpa Gyeltsen die ständigen Diffamierungen des 5. Dalai Lama und seiner Gefolgsleute nicht länger ertrug und sich das Leben nahm, indem er sich einen Khatag, einen Zeremonialschal, in den Hals stopfte und daran erstickte.

In seiner Analyse dieses Gründungsmythos betont Georges Dreyfus, dass es schon im 17. Jahrhundert um einen machtpolitischen Konflikt zwischen dem 5. Dalai Lama und Dragpa Gyeltsen ging. Beide Kontrahenten waren nicht nur im religiösen Feld aktiv, sondern sie standen zudem zwei großen, miteinander konkurrierenden mönchischen Landgütern vor. Eine weitaus größere Rolle für den gegenwärtigen Konflikt spielt jedoch die Art und Weise, wie Dragpa Gyeltsen zu Tode gekommen ist. Menschen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind, nehmen in der tibetischen Weltsicht oft eine Wiedergeburt als böse Geister an, die die Lebenden belästigen und Vergeltung suchen. Solche Geister sind umso mächtiger, wenn es sich um Personen handelt, die religiöses Wissen besitzen, wie das bei dem Lama Dragpa Gyeltsen der Fall war. Dragpa Gyeltsens Geist, so heißt es in dem Gründungsmythos, war besonders mächtig und manifestierte sich als rGyal po, als Geist einer religiösen Person, die gegen ihre Gelübde verstoßen hat oder unter schlechten Umständen ums Leben gekommen war. Er begann, seiner Umgebung Schwierigkeiten zu machen. Den 5. Dalai Lama ärgerte er, indem er großen Lärm während dessen Mahlzeiten machte. Schließlich, so wird erzählt, wurden die Belästigungen dem Dalai Lama und seiner Umgebung zu viel und der Regent sperrte den bösen Geist kurzerhand in eine hölzerne Box und warf ihn in den Kyi chu-Fluss. Er strandete in einem kleinen Teich in Südtibet. Dort errichtete man dem Geist des Dragpa Gyeltsen einen kleinen Tempel. Das geschah auf Anordnung des 5. Dalai Lama, der den Geist befrieden, „zähmen“ wollte, indem er eine Verehrungspraxis etablierte, die den Geist günstig stimmen sollte. Er wurde fortan unter dem Namen Gyelchen Dorje Shugden (rGyal chen rDo rje shugs Idan), „großer rGyal [-Geist] Dorje Shugden", verehrt und die Pflege seines Tempels wurde Mönchen der Sakyapa-Tradition anvertraut.

Die Manifestation des verstorbenen Dragpa Gyeltsen als Dorje Shugden erweist sich damit nach dieser Schilderung keineswegs als Homage an eine machtvolle Schutzgottheit, besonders nicht an eine aus der Klasse der Schutzgottheiten, die „jenseits unserer Welt handeln“ (tib. ‘jig rten las ‘das pa’i srung ma), sondern trägt eine pejorative Note in sich. Die Wiedergeburt als böser Geist spricht im Kontext des tibetischen Buddhismus für die Akkumulation negativen Karmas. Entsprechend herablassend äußerte sich der 5. Dalai Lama über das nachtodliche Schicksal seines Kontrahenten. Aus den frühen Quellen zu Dorje Shugden geht, wie Georges Dreyfus ausführt, klar hervor, dass eine Verbindung zwischen Dragpa Gyeltsen und einem rGyal-Geist namens Dorje Shugden nur von den Gegnern des Dragpa Gyeltsen konstruiert wurde, während sie von den Anhängern des verstorbenen Lamas empört abgelehnt wurde.

In tibetischen Quellen des frühen 19. Jahrhunderts taucht die Gottheit Shug-den unter dem Namen Dölgyel (Dol rgyal), „rGyal [-Geist] von Dol“, auf. Es handelte sich hier um eine niedere lokale Gottheit, ebenfalls vom Typus eines rGyal, der anscheinend in der Gegend von Dol im Yarlung-Tal in Zentraltibet sein Unwesen trieb. Da solche Geister, die den Menschen Schaden zufügen können, besänftigt werden müssen, wurden für ihn einige Tempel errichtet und Rituale zu seiner Besänftigung in einigen Klöstern ausgeführt, so in Samye, dem ältesten tibetischen Kloster Tibets. Shugden ist in diesen Quellen aus dem 19. Jahrhundert eine niedere, aber besonders gefährliche, da gewalttätige Gottheit.

7. Von einer niederen Lokalgottheit zum Dharmabeschützer der Gelugpa

Im 20. Jahrhundert stieg Dorje Shugden von einer unbedeutenden, lediglich in einem lokalen Kontext eine Rolle spielenden niederen Schutzgottheit zum Hüter der Reinheit der Gelugpa-Lehre auf, und heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wird er sogar als ein Buddha verehrt.²⁴ Wie kam es zu diesem Aufstieg? In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die ursprünglich pejorativ intendierte Identifikation von Shugden mit Lama Dragpa Gyeltsen von dem Gelugpa Lama Phabongkha Rinpoche (Pha bong kha Rin po che) (1878-1941) positiv umgedeutet. Phabongkha, der aus Osttibet (Kham) stammte und den späteren Tutor des 14. Dalai Lama, Trijang Rinpoche, zu seinen Schülern zählte, erzählte die Geschichte von Dragpa Gyeltsen neu. Ihm zufolge wurde der Lama nach seinem Tod eine zornvolle Schutzgottheit, die eifersüchtig über die Reinheit der Gelugpa-Lehre wachte. Daher wandte er sich besonders gegen den 5. Dalai Lama, dessen Affinität zu religiösen Praktiken der Nyingmapa bekannt war. Phabongkha deutete die Gelugpa-Tradition in einigen wesentlichen Aspekten neu, betonte jedoch, dass es sich keineswegs um eine Um- beziehungsweise Neuinterpretation handelte, sondern um eine Rückbesinnung auf die reine, von Tsongkhapa (Tsong kha pa) im 14. Jahrhundert etablierte Lehre. In diesem Sinne könnte Phabongkha als erster tibetisch-buddhistischer „Fundamentalist“ bezeichnet werden. Die Lehre, die Phabongkha vertrat, repräsentierte in seiner Sicht die wahre Orthodoxie der Gelugpa-Tradition. Dabei ging er sehr innovativ vor. Unter anderem führte er Dorje Shugden als die wichtigste Schutzgottheit der Gelugpa ein, mit dem Hinweis, die von Tsongkhapa zu diesem Zweck etablierte Gottheit, Damchen Chögyel (Dam can chos rgyal), hätte sich in das Reine Land Tushita zurückgezogen und den Schutz der Gelugpa-Lehre Shugden anvertraut. Phabongkhas klare Präferenz für Dorje Shugden hatte wahrscheinlich familiäre Gründe, denn Shugden war die Gottheit seiner mütterlichen Abstammungslinie.²⁵

Phabongkha Rinpoche muss eine außerordentlich charismatische Persönlichkeit gewesen sein. Der von ihm inaugurierten Erneuerungsbewegung in Kham ist es zu verdanken, dass einige Nyingmapa-Klöster in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewaltsam enteignet wurden und in Gelugpa-Besitz übergingen. Sein missionarischer Eifer ist wohl auf die religiöse und soziale Situation seiner Heimat Kham in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zurückzuführen. Dort hatten sich schon im 19. Jahrhundert die verschiedenen Lehrtraditionen, mit Ausnahme der Gelugpa, in der so genannten Rime (Ris med)-Bewegung zusammengeschlossen, einer Bewegung, die das Gemeinsame der einzelnen buddhistischen Traditionen hervorhob. Der Zusammenschluss der Lehrtraditionen bedeutete auch eine Stärkung gegenüber den dominanten Gelugpa. In Osttibet befanden sich die Gelugpa selbst in keinem guten Zustand zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Klöster tendierten zur Verwahrlosung, und die Mönchsdisziplin wurde nur noch locker eingehalten. Phabongkha Rinpoche, der die Rime-Bewegung als Bedrohung der Vormachtstellung der Gelugpa sah, wollte der Gelugpa-Tradition zu neuem Glanz verhelfen. Er selbst verstand sich explizit als der wichtigste Gelugpa-Lehrer des 20. Jahrhunderts. Er besaß eine Reihe einflussreicher Schüler, die in Lhasa wirkten und schon zur Zeit des 13. Dalai Lama großen Einfluss auf die Regierung ausübten. So gelangte schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Shugden-Verehrung in die großen Kloster Institutionen bei Lhasa und trat ihren Siegeszug bei den klerikalen Eliten an. Phabongkha wurde daraufhin vom 13. Dalai Lama unter Druck gesetzt, die Shugden-Verehrung aufzugeben. In der Folge propagierte er die Praxis zwar nicht mehr, gab sie jedoch nicht auf. Der Virus der Shugden-Verehrung war zudem in Sera, Drepung und Ganden, den drei riesigen Klosterinstitutionen, bei Lhasa, gepflanzt. Die Shugden-Verehrung wurde von seinem Tutor Trijang Rinpoche an den jetzigen Dalai Lama weitergegeben. Er war noch mehr als Phabongkha Rinpoche der Schutzgottheit ergeben und insistierte, dass die Gottheit lediglich als weltliche Schutzgottheit erscheine, in Wahrheit jedoch ein vollkommen erleuchteter Buddha sei. Dies propagierte er auch noch im Exil, in das er 1959 zusammen mit dem 14. Dalai Lama floh. Trotzdem kam es bis in die siebziger Jahre nicht zu einer Auseinandersetzung über die Shugden-Verehrung zwischen dem Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung auf der einen Seite und der Gelugpa-Hierarchie auf der anderen Seite. Shugden wurde nicht in Opposition zur Institution der Dalai Lama betrachtet, sondern bestätigte lediglich den Vorrang der Gelugpa-Tradition gegenüber den anderen tibetisch-buddhistischen Lehrtraditionen. Dies war eine Sicht, die viele in der tibetischen Exilregierung teilten.

8. Das „gelbe Buch“

Erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wandte sich der 14. Dalai Lama von der Shugden-Verehrung ab. Die Krise wurde durch die Publikation des so genannten „gelben Buches“ im Jahr 1975 ausgelöst. In diesem Buch schrieb der Autor Dzeme Rinpoche (Dze smad Rin po che) (1927—1996), ein Schüler von Trijang Rinpoche, einige Geschichten auf, die ihm sein Lehrer erzählt hatte. Das Buch zählt eine Reihe von Gelugpa-Lamas auf, die eines frühen und gewaltsamen Todes gestorben waren, da sie den Anweisungen der Schutzgottheit Dorje Shugden nicht gefolgt waren. Sie alle hatten Nyingmapa-Lehren praktiziert. Die Schutzgottheit, so die Aussage des „gelben Buches“, sieht die Praxis von Nyingmapa-Lehren als Bedrohung der reinen Gelugpa-Lehre an und verfolgt alle, die dies missachten, bis zu ihrem vorzeitigen, gewaltsamen Tod.

Der Dalai Lama reagierte äußerst heftig auf die Veröffentlichung des Buchs. Er fühlte sich nicht nur persönlich bedroht, sondern sah das gelbe Buch als eine Unterminierung der Fundamente der Institution der Dalai Lamas. Er verweigerte die „Opfergaben für ein langes Leben“ der tibetischen Regierung, die traditionell nach dem tibetischen Neujahr als ein Zeichen des feierlichen Versprechens (tib. dam tshig tshang ma) zwischen ihm und dem tibetischen Volk dargebracht werden. Dies wurde in der tibetischen Exilgemeinschaft mit absolutem Entsetzen aufgenommen, da seine Verweigerung nahe legte, er wolle sich aus dieser Welt zurückziehen, und eine wahre Flut von Ritualen setzte ein. Das Nechung-Orakel ordnete an, eine Vielzahl von Mantras zu rezitieren, um den Dalai Lama zum Verweilen zu bewegen. Dzeme Rinpoche wurde für sein Buch öffentlich getadelt und zudem von der Teilnahme an den Öffentlichen Belehrungen des Dalai Lama ausgeschlossen. Der Dalai Lama begann nun, die Praxis der Dorje Shugden-Verehrung zumindest in öffentlichen Ritualen zu unterbinden. Die drei großen Klosterinstitutionen und die beiden tantrischen Kollegien durften keine Shugden-Rituale mehr durchführen. Statuen und Thangkas der Schutzgottheit wurden aus den Klöstern entfernt Einzelpersonen hingegen durften ihre Praxis im privaten Raum fortsetzen, solange sie es diskret taten. Seit den siebziger Jahren hat der Dalai Lama klar gegen die Verehrung von Dorje Shugden Stellung bezogen, eine Haltung, die zwar von der Exilregierung unterstützt wird, aber von weiten Teilen des Klerus in den drei großen Klosterinstitutionen in Südindien und einem Teil der tibetischen Exilgemeinschaft nicht mitgetragen wird.

9. Die Institution der Dalai Lamas als Projekt nationaler Identitätsbildung

Die Heftigkeit der Reaktion des Dalai Lama auf die Veröffentlichung des „gelben Buches“ und seine kompromisslose Unterbindung der Shugden-Praxis wird erst dann verständlich, wenn die Beziehung zwischen Dorje Shugden und dem Ritualsystem, das die Institution der Dalai Lamas seit dem 17. Jahrhundert begründet, einer gründlichen Analyse unterzogen wird. Die Institution der Dalai Lamas, wie sie im 17. Jahrhundert durch den großen 5. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso, begründet worden ist, ist sowohl eine politische als auch eine religiöse Institution. Sie wird durch ein komplexes rituelles System fundiert, in dem sie noch heute ihre Bestätigung erfährt. Die rituelle Fundierung des Systems zeigt zugleich die die einzelnen Lehrtraditionen übergreifende Relevanz und die sozio-religiöse Integrationskraft der Institution der Dalai Lamas für die tibetische Gesellschaft auf.

Als der 5. Dalai Lama im Jahr 1642 die politische Herrschaft, die ihm der Qoshot-Mongole Gushri Qan offerierte, annahm, etablierte er seine Herrschaft im Rückgriff auf das frühe tibetische Großreich. Im tibetischen kulturellen Gedächtnis war die Zeit des tibetischen Großreichs, das 7. bis 9. Jahrhundert, das „goldene Zeitalter“ eines geeinten, mächtigen tibetischen Reichs, in dessen erstem Herrscher Songtsen Gampo (Srong btsan sgam po) sich der Bodhisattva Avalokiteshvara manifestiert hatte. Darüber hinaus wurde in dem im 12. Jahrhundert entstandenen, pseudohistorischen Werk Mani bka’ ‘bum, das das Leben und die Taten Songtsen Gampos verherrlicht, das Land Tibet als Buddhafeld des Avalokiteshvara beschrieben und der Bodhisattva selbst avancierte zum Stammvater des tibetischen Volkes.²⁶ In diese Fokussierung auf den Bodhisattva Avalokiteshvara wurde die Inkarnationslinie der Dalai Lamas ebenfalls eingebunden. Schon in der im Jahr 1494 verfassten Biographie seines Vorgängers Gendün Drubpa (dGe ‘dun grub pa) wird dieser 1. Dalai Lama, wie der erste Herrscher der Yarlung-Dynastie, als Emanation des Bodhisattvas Avalokiteshvara bezeichnet. An diese mythischen Konzepte anknüpfend verbreitete der 5. Dalai Lama seine Vorstellungen durch rituelle Performanzen. Für die Zeit nach 1642 können wir einen deutlichen Anstieg der von ihm selbst abgehaltenen Avalokiteshvara-Rituale feststellen. Seiner Autobiographie zufolge vollzog er allein auf seiner Reise an den Qing-Kaiserhof in China in den Jahren 1652 bis 1653 jeden Monat mindestens ein, oft sogar vier oder mehr solcher Rituale vor einer großen Menge von Zuschauern.²⁷ Neben den rituellen Inszenierungen behauptete der 5. Dalai Lama seinen Herrschaftsanspruch sichtbar im Raum durch den Bau des Potala-Palastes, den er in Auftrag gab. Die Verbindung mit Avalokiteshvara, dessen Buddhafeld „Potalaka“ genannt wird, wird hier verräumlicht. Darüber hinaus etablierte der 5. Dalai Lama ein elaboriertes, öffentlich inszeniertes Ritualsystem, das seinen Anspruch in der religiösen Praxis bestätigte. Zwei Aspekte in diesem Ritualsystem sind hinsichtlich der Shugden-Kontroverse von hervorragender Bedeutung, einmal die Verehrung des indischen tantrischen Meisters Padmasambhava aus dem 8. Jahrhundert, zum anderen die Stellung der weltlichen Schutzgottheit Nechung.

Padmasambhava kann als der Kulturheros des tibetischen Buddhismus bezeichnet werden. Ein tantrischer Yogin, lud ihn der Herrscher Trisong Detsen (Khri srong lde’u btsan) nach Tibet ein, um die negativen dämonischen Kräfte, die der Einführung des Buddhismus entgegenstanden, zu bezwingen, zu „zähmen“. Padmasambhava bezwang der Legende nach die einheimischen Dämonen und Geister und führte sie der buddhistischen Lehre als „Beschützer“ zu. Padmasambhava, oder Guru Rinpoche, wie er in Tibet genannt wird, ist auch der Gründungsvater der ersten tibetisch-buddhistischen Lehrtradition, der Nyingmapa (rNying ma pa), der „Alten“, die ihre Tradition auf die Zeit des 7. bis 9. Jahrhunderts zurückführen.

Unter den von Padmasambhava bezwungenen einheimischen Gottheiten befand sich auch die Gottheit Pehar (Pe har), die von ihm als Hauptschutzgottheit des frühen tibetischen Königreichs eingesetzt wurde. Pehar wurde vor dem 17. Jahrhundert besonders von den Nyingmapa verehrt. Erst der 5. Dalai Lama machte Pehar zur Schutzgottheit der neu errichteten Zentralregierung in Lhasa, die die Nachfolge des frühen tibetischen Reichs antrat. Der Schrein des Pehar, der sich in Samye, dem ältesten Kloster Tibets, befand, wurde nach Nechung bei Lhasa überführt. Pehar beziehungsweise Nechung gehört der Gruppe der so genannten „fünf Könige“ (tib. rgyal po sku lnga) an, die alle als Manifestationen des Pehar angesehen werden. Unter den fünf Manifestationen des Pehar wird Nechung meistens mit Dorje Dragden, der Sprach-Manifestation der „fünf Könige“, identifiziert. Er ergreift von Zeit zu Zeit Besitz von einem Medium, und wurde seit der Zeit des 5. Dalai Lama von der tibetischen Regierung als Orakel in wichtigen Regierungsangelegenheiten herangezogen. Heute residiert das Orakel von Nechung in dem nach 1959 in Dharamsala neu erbauten Nechung-Kloster, und es hat in der tibetischen Exilregierung dieselbe Position wie vor 1950 in Tibet inne.

Durch die Etablierung von Pehar als Hauptschutzgottheit der Zentralregierung von Lhasa wurde die Nyingmapa-Verbindung der Gelugpa-Regierung symbolisch affirmiert. Zugleich verdeutlichte die rituelle Fundierung des Systems in der Gestalt des Pehar die die einzelnen tibetisch-buddhistischen Lehrtraditionen übergreifende Stellung der Zentralregierung.

Das Nechung-Orakel bildet eine der Grundlagen der Institution der Dalai Lamas, die seit der Zeit des großen 5. Dalai Lama für das sich formierende Nationalgefühl des tibetischen Volkes entscheidend war.²⁸ In dieser Institution werden die divergierenden religiösen Traditionen des tibetischen Buddhismus eingebunden und im Projekt eines nationalen Identitätsentwurfs die Einheit des tibetischen Volkes durch religiöse Einigkeit gefördert. Das Erscheinen des „gelben Buches“ war daher für das Bemühen des 14. Dalai Lama, im Exil auf die religiöse Symbolik des 5. Dalai Lama zurückzugreifen und eine sämtliche partikulare Interessen übergreifende und transzendierende nationale Identität zu etablieren, kontraproduktiv.

10. Dorje Shugden und die nationale Einheit

Die Schutzgottheit Dorje Shugden hat sich aus einem lokalen, eher Übel wollenden Geist aus dem Süden Tibets, der bei den Sakyapa eine gewisse Rolle spielte, zu einer pan-tibetischen Gottheit, die den Anspruch erhebt, die wichtigste Schutzgottheit der Gelugpa zu sein, entwickelt. Dies ist eine rezente Entwicklung in der Religionsgeschichte Tibets. Darüber hinaus entwickelte die Gottheit ausgeprägt sektarische Züge, die sie symbolisch die Reinheit der Gelugpa-Lehre darstellen und damit diese Lehrtradition den anderen tibetisch-buddhistischen Lehrtraditionen übergeordnet betrachten ließ. Damit gefährdete Dorje Shugden das Projekt der nationalen Einheit der tibetischen Exilgemeinschaft. Die öffentliche Inszenierung der Dorje Shugden-Verehrung sowie die Aushandlung binnenreligiöser Differenz im virtuellen öffentlichen Raum des Internets, die durch die Beteiligung westlicher buddhistischer Gruppen transnationale Bedeutung erlangt haben, haben den Dalai Lama dazu veranlasst, die Shugden-Praxis in der Öffentlichkeit zu unterbinden. Im privaten Raum, so hat der Dalai Lama häufiger betont, kann Dorje Shugden weiterhin verehrt werden. Im Gegensatz zu dem Tibet vor 1950 ist die Regierung der tibetischen Exilgesellschaft demokratisch gewählt und legitimiert. Der Dalai Lama selbst hat in seiner Autobiographie wie auch in vielen Reden über die Jahre hinweg irnmer wieder betont, wie wichtig ihm eine demokratische Verfassung für Tibet sei. So lesen wir auch auf der Homepage des Tibetan Government in Exile: „Democracy is something that His Holiness the Dalai Lama has dreamed of giving to bis people since he was young.“ Im Exil wurde dies konsequent umgesetzt, allerdings auf eine sehr spezifische Weise. Die tibetische Exilregierung besteht aus den drei zentralen Institutionen eines demokratischen Staates, der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Die Exekutive, der Kashag (Rat der Minister), wird von der Abgeordnetenversammlung gewählt, die selbst vom Volk, d.h. jeder und jedem Tibeter, die oder der über achtzehn Jahre alt ist, gewählt wird. Der Rat der Minister besteht aus acht Mitgliedern. Hier nun können wir eine kleine Abweichung von unserer Vorstellung von Demokratie feststellen: Ein Mitglied des Kashag wird direkt vom Dalai Lama berufen, der den drei Gewalten übergeordnet bleibt. Seine Autorität ist damit unhinterfragbar. Das demokratische System der Exilregierung unterscheidet sich insofern von dem System der Zentralregierung vor 1950, als die Mitglieder der Abgeordnetenversammlung, die den Kashag wählen, direkt vom Volk gewählt werden. Oberste politische wie religiöse Instanz bleibt jedoch der Dalai Lama. Wir haben es hier also mit einer demokratischen Regierungsform zu tun, an deren Spitze ein religiöses Oberhaupt steht, dessen Autorität entlang religiöser Deutungsmuster legitimiert wird. Die religiöse Fundierung der tibetischen Exilregierung wird durch die öffentliche Inszenierung der Shugden-Verehrung und die an der Kontroverse partizipierenden westlichen buddhistischen Gruppen, die nicht zur tibetischen „Nation“ gehören, in Frage gestellt. Die Anhängerinnen und Anhänger dieser Schutzgottheit sind nun nicht mehr eine unter vielen, sich durchaus auch streitenden religiösen Gruppen in der tibetischen Exilgesellschaft. Sie spiegeln nicht den religiösen Pluralismus der tibetischen Gesellschaft wider, sondern sie stellen aufgrund ihres religiösen Exklusivismus, der sich dezidiert gegen die tendenziell inklusivistische religiöse Fundierung der Institution der Dalai Lamas richtet und die „nationale Einheit“ der tibetischen Gesellschaft negiert, aus Sicht der Exilregierung eine Bedrohung für die innere Einheit der Gesellschaft dar. Dies kommt in Schlagzeilen wie „Shugden versus pluralism and national unity“ auf der Homepage des Tibetan Government in Exile zum Ausdruck. Daher kommt es zu einer Abwägung des höheren Guts – hier das individuelle Recht auf freie Religionsausübung auch im öffentlichen Raum, dort das „Gemeinwohl“, das durch spezifische Ausformulierungen der religiösen Tradition bestimmt wird. In der exiltibetischen Gesellschaft stellt die Shugden-Affäre eine erste Bewährungsprobe der noch jungen Demokratie dar. Letztlich steht die spezifisch tibetische Variante von Demokratie zur Disposition, die sich in der Aushandlung des Spannungsfeldes zwischen privater religiöser Freiheit und ihrer öffentlichen symbolischen Repräsentation neu konstituieren muss.  ■


Fußnoten

¹ Ich benutze eine phonetische Umschrift des Tibetischen. In runden Klammern wird jeweils die wissenschaftliche Transliteration gegeben, s. T. V. Wylie, A Standard System of Tibetan Transcription, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 22 (1959) 261—276.

² S. Marc Gaborrieau (Ed.), Tibetan Muslims, in: The Tibet Journal 21 (1995), No. 3.

³ Corneille Jest I Kha-che and gya-Kha-che, Muslim Communities in Lhasa (1990), in: The Tibet Journal 21 (1995), No. 3. 8—20, behandelt die heutige Situation der wenigen im chinesisch besetzten Tibet verbliebenen Mitglieder der tibetischen muslimischen Gemeinschaft in Lhasa.

⁴ Siehe www.tibet.com/MusIim/index.html.

⁵ Per Kvaerne, The Bon Religion of Tibet. The Iconography of a Living Tradition, London 1995, 9-23.

⁶ www.tibet.com/Govt/charter.html, abgerufen am 19.5.2007.

⁷ Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990 (1962), Vorwort zur Neuauflage 1990, 13.

⁸ Zur Auseinandersetzung mit Habermas s. Craig Calhoun (Ed.), Habermas and the Public Sphere. Cambridge, MA 1992.

Peter Dahlgren, The Internet, Public Spheres, and Political Communication: Dispersion and Deliberatio, in: Political Communication 22/2 (2005) 156 [147—162].

¹⁰ Dies verdeutlicht die verwendete tibetische Begrifflichkeit: Tib. sger übersetzt im modernen Standard-Tibetischen „privat“, s. Melvyn C. Goldstein, English-Tibetan Dietionary of Modern Tibetan, Berkeley usw. 1984, 339, s.v. „private“. In seiner ursprünglichen. Bedeutung bezeichnet sger-pa einen Landbesitzer, der keine Steuerabgaben der Zentralregierung in Lhasa leistet, mithin die gesellschaftliche Schicht des „Adels“ in der tibetischen Gesellschaft vor 1950, s. Matthew Kapstein, The Tibetans, Oxford 2006, 181, sowie Melvyn C. Goldstein, Tibetan-English Dietionary of Modern Tibetan, Kathmandu 1978, 287, s.v. „sger pa“. Auch die im Tibetisch-Chinesisch-Tibetischen Wörterbuch (Bd. I, 590) gegebene Erklärung für sger khag („der private Sektor“), gzhung sger chos gsum nang gi sger pa khag, „der innere, private Sektor von Regierung, Adel und Klerus“, verweist auf die ökonomische Grundlage des Verhältnisses von Privatem und Öffentlichem, da diese drei Bereiche sich aus der Sicht der tibetischen Zentralregierung vor allem durch eine unterschiedliche Steuerpolitik voneinander unterschieden. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die in diesem Wörterbuch verwendete Begrifflichkeit die maoistische Gesellschaftsinterpretation reflektiert. Das Verhältnis von öffentlich und privat, tib. spyi sger, wird im Tibetischen auch als „allgemein und partikular“ (thun mong dang sger) umschrieben.

¹¹ Reinhart Koseileck, Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959, 41.

¹² Koselleck, Kritik und Krise (Anm 11), 44.

¹³ Vgl. auch Christian Geulen, Symmetrie und Politik: Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen, in: Nilüfer Göle / Ludwig Amman (Hg.), Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, 45—68, besonders 56ff.

¹⁴ Vgl. Melvyn C. Goldstein, A History of Modem Tibet, 1913-1951. The Demise of the Lamaist State. Berkeley 1989, 349.

¹⁵ Goldstein, A History (Anm. 14), 340—350.

¹⁶ Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1999 (Stuttgart 1960), 71.

¹⁷ Hier ist festzuhalten, dass die einen stark repräsentativen Charakter innehabende vormoderne tibetische Öffentlichkeit sich gerade über den Ausschluss bestimmter sozialer Gruppen konstituierte.

¹⁸ Siehe www.tibet-internal.com, die Homepage des Tibetan Studies Press Office, die die Kontroverse aus Sicht der Shugden-Anhängerschaft dokumentiert.

¹⁹ Vgl. www.tibet.com/dhoIgyal/index.html, abgerufen am 19.5.2007. Nach einer Meldung der Zeitung Tibetan Review in ihrer Ausgabe vom Juli 2007 (S. 12) werden die beiden Hauptverdächtigen Lobsang Choedag und Tenzin Choezin via einer „Red Notice“ von Interpol gesucht. Eine so genannte „Red Notice“ ist kein Haftbefehl, sondern eine Notiz, mittels derer Interpol seine Mitgliedsnationen darauf aufmerksam macht, dass eine Person in einem Land gesucht wird.

²⁰ Zur New Kadampa Tradition s. D. Kay, The New Kadampa Tradition and the Continuity of Tibetan Buddhism in Transition, in: Journal of Contemporary Religion 12 (1997), No. 3, 277—293. In der Schweiz wurde 1992 in Zürich von Geshe Kelsang Gyatso das Vajradhara-Zentrum gegründet, das 2003 in seine neuen Räume in Zürich-Altstetten umzog. Auf der Homepage des Zentrums (www.vajradhara.ch) wird die Geschichte des Zentrums ausführlich dokumentiert. Zu Dorje Shugden findet sich jedoch keinerlei Information.

²¹ Die beste Darstellung bleibt nach wie vor Georges Dreyfus, The Shugs Idan Affair: History and Nature of a Quarrel, in: Journal of the International Association of Buddhist Studies 21 (1999), No. 2, 227-270. Eine neuere Version des Beitrags findet sich unter dem Titel „The Shukden affair: Origins of a controversy“ auf der homepage des Daiai Lama: www.dalailama.com (abgerufen am 22.5.2007). Siehe auch ders., Are We Prisoners of Shangrila? Orientalism, Nationalism, and the Study of Tibet, in: Journal of the International Association of Tibetan Studies, No. 1, October 2005, 1—21, Stephen Batchelor, Letting Daylight into Magic. The Life and Times of Dorje Shugden, http://stephenbatchelor.org/daylight.html (abgerufen am 18.6.2007), Andreas Gruschke, The Dorje Shugden issue: A changing society's clash with stereotyped pereeptions, in: Tibetan Review, October 1998, 15—19. Im deutschen Sprachraum bietet Michael von Brück, Religion und Politik im tibetischen Buddhismus, München 1999 eine mehr populärwissenschaftliche Aufarbeitung der Shugden-Kontroverse.

²² Tib. Grags pa rgyai mtshan.

²³ Die folgende Darstellung der historischen Hintergründe des Konflikts stützt sich auf die Forschungsergebnisse von Dreyfus, The Shugs Idan Affair (Anm. 21).

²⁴ So heißt es auf der Homepage der NKT: „Deshalb ist es klar, dass alle wirklichen Dharma-Beschützer Ausstrahlungen von Buddhas und Bodhisattvas sein müssen.“ Und etwas später: „Da er [Dorje Shugden, Anm. der Verfasserin] ein Buddha ist…“, s. www.kadampa.org/german/-tradition/dorje_shugden.php (abgerufen am 26.5.2007).

²⁵ Tib. skyes ma’i rgyud kyi lha.

²⁶ Zu diesem Werk s. Matthew Kapstein, Remarks on the Mani bka’-‘bum and the cult of Avalokitesvara in Tibet, in: Stephen M. Goodman / Ronald M. Davidson (Eds.), Tibetan Buddhism, Reason and Reveiation, Albany 1992, 79—94 und 163—169.

²⁷ Vgl. Y. Jshihama, On the Dissemination of the Belief in the Dalai Lama as a Manifestation of the Bodhisattva Avalokitesvara, in: Acta Asiatica 64 (1993) 38—56.

²⁸ Siehe hierzu auch Georges Dreyfus, Proto-Nationalism in Tibet, in Per Kvaerne (Ed.), Tibetan Studies. Proceedings of the 6th Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Fagerness 1992. Vol. 1, Oslo 1994, 205—218.

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Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz ist Ordentliche Professorin und Mit-Direktorin des Instituts für Religionswissenschaft an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern in der Schweiz.

© Karénina Kollmar-Paulenz

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Karénina Kollmar-Paulenz. Sonderdruck aus: Mariano Delgado, Ansgar Jödicke, Guido Vergauwen (Hrsg.), »Religion und Öffentlichkeit – Probleme und Perspektiven«, Verlag W. Kohlhammer, 2009, S. 199-217.

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