Den Ratschlag des Lehrers in Frage stellen

S.H. der XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Sie sollten all das tun, was Ihr Lehrer von Ihnen verlangt, selbst wenn Ihnen das merkwürdig vorkommt, ist es nicht so? Falsch. Gemäß seiner Heiligkeit dem Dalai Lama ist jeder Schüler für sich selbst verantwortlich, indem er die Anweisungen seines Lehrers einer Prüfung unterziehen sollte, ob diese mit dem gesunden Menschenverstand und dem Dharma in Einklang zu bringen sind. Angesichts des seltsamen Verhaltens des Lehrers ergehen sich viele Schüler in Erklärungsversuchen. – »Das muss eine Belehrung sein« oder »Das ist verrückte Weisheit, die man nicht hinterfragen kann« oder »Es ist ein Test« – dies führt lediglich dazu, dass die Schüler Schaden nehmen, die es nicht verstehen, dass selbst gefestigte Lehrer manchmal eine Persönlichkeit mit blinden Flecken aufweisen und Fehler machen. S. H. der Dalai Lama äußerte sich nachhaltig zu diesem Thema in diesem Auszug, der dem Werk »Der Pfad zur Erleuchtung« entnommen wurde.¹

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Die Dalai Lamas

»Die Dalai Lamas werden von ihren Anhängern als fortgeschrittene Mahayana Bodhisattvas angesehen, mitfühlende Wesen, die sozusagen ihren eigenen Eintritt in das Nirvana zurückgestellt haben, um der leidenden Menschheit zu helfen. Sie sind demnach auf einem guten Wege zur Buddhaschaft, sie entwickeln Perfektion in ihrer Weisheit und ihrem Mitgefühl zum Wohle aller Wesen. Dies rechtertigt, in Form einer Doktrin, die soziopolitische Mitwirkung der Dalai Lamas, als Ausdruck des mitfühlenden Wunsches eines Bodhisattvas, anderen zu helfen.«

»Hier sollten wir zwei Dinge feststellen, die der Dalai Lama nicht ist: Erstens, er ist nicht in einem einfachen Sinne ein ›Gott-König‹. Er mag eine Art König sein, aber er ist kein Gott für den Buddhismus. Zweitens, ist der Dalai Lama nicht das ›Oberhaupt des Tibetischen Buddhismus‹ als Ganzes. Es gibt zahlreiche Traditionen im Buddhismus. Manche haben ein Oberhaupt benannt, andere nicht. Auch innerhalb Tibets gibt es mehrere Traditionen. Das Oberhaupt der Geluk Tradition ist der Abt des Ganden Klosters, als Nachfolger von Tsong kha pa, dem Begründer der Geluk Tradition im vierzehnten/fünfzehnten Jahrhundert.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
Clarke, P. B., Encyclopedia of New Religious Movements
(New York: Routledge, 2006), S. 136.

Regierungsverantwortung der Dalai Lamas

»Nur wenige der 14 Dalai Lamas regierten Tibet und wenn, dann meist nur für einige wenige Jahre.«

(Brauen 2005:6)

»In der Realität dürften insgesamt kaum mehr als fünfundvierzig Jahre der uneingeschränkten Regierungsgewalt der Dalai Lamas zusammenkommen. Die Dalai Lamas sechs und neun bis zwölf regierten gar nicht, die letzten vier, weil keiner von ihnen das regierungsfähige Alter erreichte. Der siebte Dalai Lama regierte uneingeschränkt nur drei Jahre und der achte überhaupt nur widerwillig und auch das phasenweise nicht allein. Lediglich der fünfte und der dreizehnte Dalai Lama können eine nennenswerte Regieruagsbeteiligung oder Alleinregierung vorweisen. Zwischen 1750 und 1950 gab es nur achtunddreißig Jahre, in denen kein Regent regierte!«

Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 182,
Universität Hamburg

Der Fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso (1617–1682)

Der Fünfte Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso

»Der fünfte Dalai Lama, der in der tibetischen Geschichte einfach ›Der Große Fünfte‹ genannt wird, ist bekannt als der Führer, dem es 1642 gelang, Tibet nach einem grausamen Bürgerkrieg zu vereinigen. Die Ära des fünften Dalai Lama (in etwa von seiner Einsetzung als Herrscher von Tibet bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, als seiner Regierung die Kontrolle über das Land zu entgleiten begann) gilt als prägender Zeitabschnitt bei der Herausbildung einer nationalen tibetischen Identität – eine Identität, die sich im Wesentlichen auf den Dalai Lama, den Potala-Palast der Dalai Lamas und die heiligen Tempel von Lhasa stützt. In dieser Zeit wandelte sich der Dalai Lama von einer Reinkarnation unter vielen, wie sie mit den verschiedenen buddhistischen Schulen assoziiert waren, zum wichtigsten Beschützer seines Landes. So bemerkte 1646 ein Schriftsteller, dass dank der guten Werke des fünften Dalai Lama ganz Tibet jetzt »unter dem wohlwollenden Schutz eines weißen Sonnenschirms zentriert« sei; und 1698 konstatierte ein anderer Schriftsteller, die Regierung des Dalai Lama diene dem Wohl Tibets ganz so wie ein Bodhisattva – der heilige Held des Mahayana Buddhismus – dem Wohl der gesamten Menschheit diene.«

Kurtis R. Schaeffer, »Der Fünfte Dalai Lama Ngawang Lobsang Gyatso«, in
DIE DALAI LAMAS: Tibets Reinkarnation des Bodhisattva Avalokiteśvara,
ARNOLDSCHE Art Publishers,
Martin Brauen (Hrsg.), 2005, S. 65

Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft I

»Gemäß der meisten Quellen war der [5.] Dalai Lama nach den Maßstäben seiner Zeit ein recht toleranter und gütiger Herrscher.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 136)

»Rückblickend erscheint Lobsang Gyatso, der ›Große Fünfte‹, dem Betrachter als überragende, allerdings auch als widersprüchliche Gestalt.«

Karl-Heinz Golzio / Pietro Bandini,
»Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama«,
O.W. Barth Verlag, 1997, S. 118

»Einmal an der Macht, zeigte er den anderen Schulen gegenüber beträchtliche Großzügigkeit. […] Ngawang Lobsang Gyatso wird von den Tibetern der ›Große Fünfte‹ genannt, und ohne jeden Zweifel war er ein ungewöhnlich kluger, willensstarker und doch gleichzeitig großmütiger Herrscher.«

Per Kvaerne, »Aufstieg und Untergang einer klösterlichen Tradition«, in:
Berchert, Heinz; Gombrich, Richard (Hrsg.):
»Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart«,
München 2000, S. 320

Der Fünfte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft II

»Viele Tibeter gedenken insbesondere des V. Dalai Lama bis heute mit tiefer Ehrfurcht, die nicht allein religiös, sondern mehr noch patriotisch begründet ist: Durch großes diplomatisches Geschick, allerdings auch durch nicht immer skrupulösen Einsatz machtpolitischer und selbst militärischer Mittel gelang es Ngawang Lobzang Gyatso, dem ›Großen Fünften‹, Tibet nach Jahrhunderten des Niedergangs wieder zu einen und in den Rang einer bedeutenden Regionalmacht zurückzuführen. Als erster Dalai Lama wurde er auch zum weltlichen Herrscher Tibets proklamiert. Unter seiner Ägide errang der Gelugpa-Orden endgültig die Vorherrschaft über die rivalisierenden lamaistischen Schulen, die teilweise durch blutigen Bürgerkrieg und inquisitorische Verfolgung unterworfen oder außer Landes getrieben wurden.

Jedoch kehrte der Dalai Lama in seiner zweiten Lebenshälfte, nach Festigung seiner Macht und des tibetischen Staates, zu einer Politik der Mäßigung und Toleranz zurück, die seinem Charakter eher entsprach als die drastischen Maßnahmen, durch die er zur Herrschaft gelangte. Denn Ngawang Lobzang Gyatso war nicht nur ein Machtpolitiker und überragender Staatsmann, sondern ebenso ein spiritueller Meister mit ausgeprägter Neigung zu tantrischer Magie und lebhaftem Interesse auch an den Lehren anderer lamaistischer Orden. Zeitlebens empfing er, wie die meisten seiner Vorgänger, gebieterische Gesichte, die er gegen Ende seines Lebens in seinen ›Geheimen Visionen‹ niederlegte.«

(Golzio, Bandini 1997: 95)

Der Dreizehnte Dalai Lama, Thubten Gyatso (1876–1933)

Der Dreizehnte Dalai Lama, Thubten Gyatso

»Ein anderer, besonders wichtiger Dalai Lama war der Dreizehnte (1876–1933). Als starker Herrscher versuchte er, im Allgemeinen ohne Erfolg, Tibet zu modernisieren. ›Der große Dreizehnte‹ nutzte den Vorteil des schwindenden Einflusses China im 1911 beginnenden Kollaps dessen Monarchie, um faktisch der vollständigen nationalen Unabhängigkeit Tibets von China Geltung zu verschaffen. Ein Fakt, den die Tibeter von jeher als Tatsache erachtet haben.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)

»Manche mögen sich vielleicht fragen, wie die Herrschaft des Dalai Lama im Vergleich mit europäischen oder amerikanischen Regierungschefs einzuschätzen ist. Doch ein solcher Vergleich wäre nicht gerecht, es sei denn, man geht mehrere hundert Jahre in der europäischen Geschichte zurück, als Europa sich in demselben Zustand feudaler Herrschaft befand, wie es in Tibet heutzutage der Fall ist. Ganz sicher wären die Tibeter nicht glücklich, wenn sie auf dieselbe Art regiert würden wie die Menschen in England; und man kann wahrscheinlich zu Recht behaupten, dass sie im Großen und Ganzen glücklicher sind als die Völker Europas oder Amerikas unter ihren Regierungen. Mit der Zeit werden große Veränderungen kommen; aber wenn sie nicht langsam vonstatten gehen und die Menschen nicht bereit sind, sich anzupassen, dann werden sie große Unzufriedenheit verursachen. Unterdessen läuft die allgemeine Verwaltung Tibets in geordneteren Bahnen als die Verwaltung Chinas; der tibetische Lebensstandard ist höher als der chinesische oder indische; und der Status der Frauen ist in Tibet besser als in beiden genannten Ländern.«

Sir Charles Bell, »Der Große Dreizehnte:
Das unbekannte Leben des XIII. Dalai Lama von Tibet«,
Bastei Lübbe, 2005, S. 546

Der Dreizehnte Dalai Lama: Beurteilungen seiner Herrschaft

»War der Dalai Lama im Großen und Ganzen ein guter Herrscher? Dies können wir mit Sicherheit bejahen, auf der geistlichen ebenso wie auf der weltlichen Seite. Was erstere betrifft, so hatte er die komplizierte Struktur des tibetischen Buddhismus schon als kleiner Junge mit ungeheurem Eifer studiert und eine außergewöhnliche Gelehrsamkeit erreicht. Er verlangte eine strengere Befolgung der mönchischen Regeln, veranlasste die Mönche, ihren Studien weiter nachzugehen, bekämpfte die Gier, Faulheit und Korruption unter ihnen und verminderte ihren Einfluss auf die Politik. So weit wie möglich kümmerte er sich um die zahllosen religiösen Bauwerke. In summa ist ganz sicher festzuhalten, dass er die Spiritualität des tibetischen Buddhismus vergrößert hat.

Auf der weltlichen Seite stärkte er Recht und Gesetz, trat in engere Verbindung mit dem Volk, führte humanere Grundsätze in Verwaltung und Justiz ein und, wie oben bereits gesagt, verringerte die klösterliche Vorherrschaft in weltlichen Angelegenheiten. In der Hoffnung, damit einer chinesischen Invasion vorbeugen zu können, baute er gegen den Widerstand der Klöster eine Armee auf; vor seiner Herrschaft gab es praktisch keine Armee. In Anbetracht der sehr angespannten tibetischen Staatsfinanzen, des intensiven Widerstands der Klöster und anderer Schwierigkeiten hätte er kaum weiter gehen können, als er es tat.

Im Verlauf seiner Regierung beendete der Dalai Lama die chinesische Vorherrschaft in dem großen Teil Tibets, den er beherrschte, indem er chinesische Soldaten und Beamte daraus verbannte. Dieser Teil Tibets wurde zu einem vollkommen unabhängigen Königreich und blieb dies auch während der letzten 20 Jahre seines Lebens.«

Sir Charles Bell in (Bell 2005: 546–47)

Der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Der Vierzehnte Dalai Lama, Tenzin Gyatso

»Der jetzige vierzehnte Dalai Lama (Tenzin Gyatso) wurde 1935 geboren. Die Chinesen besetzten Tibet in den frühen 1950er Jahren, der Dalai Lama verließ Tibet 1959. Er lebt jetzt als Flüchtling in Dharamsala, Nordindien, wo er der Tibetischen Regierung im Exil vorsteht. Als gelehrte und charismatische Persönlichkeit, hat er aktiv die Unabhängigkeit seines Landes von China vertreten. Durch seine häufigen Reisen, Belehrungen und Bücher macht er den Buddhismus bekannt, engagiert sich für den Weltfrieden sowie für die Erforschung von Buddhismus und Wissenschaft. Als Anwalt einer ›universellen Verantwortung und eines guten Herzens‹, erhielt er den Nobelpreis im Jahre 1989.«

Paul Williams, »Dalai Lama«, in
(Clarke, 2006, S. 137)

Biografie (engl.)

Moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher

Für Sobisch ist die moralische Legitimation der Herrschaft Geistlicher »außerordentlich zweifelhaft«. Er konstatiert:

»Es zeigte sich auch in Tibet, daß moralische Integrität nicht automatisch mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen erlangt wird, sondern allein auf persönlichen Entscheidungen basiert. Vielleicht sind es ähnliche Überlegungen gewesen, die den derzeitigen, vierzehnten Dalai Lama dazu bewogen haben, mehrmals unmißverständlich zu erklären, daß er bei einer Rückkehr in ein freies Tibet kein politische Amt mehr übernehmen werde. Dies ist, so meine ich, keine schlechte Nachricht. Denn dieser Dalai Lama hat bewiesen, daß man auch ohne ein international anerkanntes politisches Amt inne zu haben durch ein glaubhaft an ethischen Grundsätzen ausgerichtetes beharrliches Wirken einen enormen Einfluss in der Welt ausüben kann.«

Jan-Ulrich Sobisch,
Lamakratie – Das Scheitern einer Regierungsform, S. 190,
Universität Hamburg

Die Gabe der Praxis bedeutet immer gemäß der Belehrungen des eigenen Lehrers zu leben. Aber was passiert, wenn der Lehrer uns einen Rat erteilt, dem wir nicht folgen möchten oder der dem Dharma und dem gesunden Menschenverstand widerspricht? Der Maßstab muss immer die logische Schlussfolgerung und der Dharma sein. Jeder Ratschlag, der den vorgenannten zuwiderläuft, muss zurückgewiesen werden. Dies wurde von Buddha selbst gelehrt. Wenn man an der Gültigkeit des Gesagten zweifelt, sollte man sich behutsam diesem Punkt annähern und alle Zweifel darüber klären. Dieses Unterfangen ist im Höchsten Tantra als besonders sensitiv anzusehen, da es in diesem Bereich um die totale Hingabe an den Lehrer als Grundvoraussetzung geht, doch selbst hier kommt diese Hingabe nur in einem gewissen Sinne zum Tragen. Wenn der Lehrer nach Osten zeigt und Ihnen sagt, nach Westen zu gehen, bleibt dem Schüler wenig Alternativen, außer seinen Einwand zu äußern. Dies sollte mit Respekt und Bescheidenheit tun, denn dem Lehrer negativ gegenüber zu treten, ist kein nobler Weg seine oder ihre Güte zurück zu zahlen.

Die Wahrnehmung der Fehler des Lehrers sollte nicht dazu führen, dass wir ihn nicht mehr respektieren, denn indem uns der Lehrer Fehler demonstriert, zeigt er uns tatsächlich, was wir vermeiden sollten. Zumindest ist dies die für uns nützlichste Sichtweise. Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass der Schüler wirklich von wahrhaftigem Forschergeist durchdrungen ist und über eine klare, nicht über eine blinde Hingabe verfügt.

Häufig wird gesagt, dass die Essenz der Übung des Guru Yoga im Kultivieren der Kunst, alles, was der Lehrer tut, als perfekt anzusehen, liegt. Persönlich mache ich dies nicht, um nicht zu weit zu gehen. In den Schriften steht oft geschrieben: »Jede Handlung als perfekt betrachten«. Wie auch immer, diese Phrase muss im Licht der Worte von Buddha Shakyamuni selbst gesehen werden: »Nehmt nichts von dem, was ich euch lehre, einfach aus Glauben oder aus Respekt vor mir an, sondern überprüft es selber, als ob ihr Gold kauftet.« Das Problem mit der Praxis, alles, was der Lehrer tut als perfekt anzusehen, ist, dass diese sich sehr leicht in Gift für Lehrer und Schüler verwandeln kann. Wann immer ich diese Praxis lehre, empfehle ich deshalb immer die Tradition »jede Handlung wird als perfekt angesehen« nicht zu betonen. Sollte der Lehrer nicht-dharmische Eigenschaften hervorbringen oder Belehrungen geben, die dem Dharma widersprechen, so muss die Anleitung, den spirituellen Meister als perfekt anzusehen, zu Gunsten von Vernunft und Dharma-Weisheit aufgegeben werden.

Nehmt zum Beispiel mich. Weil viele der früheren Dalai Lamas großartige weise Menschen waren und mir nachgesagt wird, dass ich deren Reinkarnation bin und auch weil ich während meiner Lebenszeit häufig an religiösen Debatten teilgenommen habe, setzen viele Menschen sehr viel Vertrauen in mich, und in ihrer Guru Yoga Praxis visualisieren sie mich als ein Buddha – Ich werde von diesen Menschen auch als weltlicher Führer angesehen. Daher kann die Belehrung »jede Handlung als perfekt zu betrachten« leicht als Gift sowohl für meine Beziehung zu ihnen, als auch für die Effizienz meiner Aufgaben. wirken. Ich könnte mir denken; »Sie alle sehen mich als einen Buddha an, und deshalb werden sie alles akzeptieren, was ich sage.« Zu viel Vertrauen und unterstellte Reinheit der Wahrnehmung kann die Dinge sehr leicht verderben. Ich empfehle immer, dass die Belehrung über das Betrachten der Handlungen des Lehrers als perfekt im Leben einfacher Praktizierender nicht betont werden sollte. Es wäre eine unglückselige Angelegenheit, wenn dem Buddhadharma, der auf profunder Vernunft basiert, nur noch der zweite Platz eingeräumt wird.

S.H. der XIV. Dalai Lama, Tenzin Gyatso

Vielleicht denken Sie: »Der Dalai Lama hat nicht die Schriften des Lam Rim gelesen. Er weiß nicht, dass es keine Praxis im Dharma ohne den Lehrer gibt.« Ich schätze die Belehrungen des Lam Rim nicht gering. Auf einem spirituellen Pfad sollte sich der Schüler an einem Lehrer orientieren und er sollte über die Güte und die guten Qualitäten dieses Lehrers meditieren, aber die Belehrung hinsichtlich seine oder ihre Handlungen als perfekt anzusehen kann lediglich im Kontext des Dharmas in seiner Ganzheit angewandt werden und in Bezug auf den rationalen Zugang zum Wissen, der hier befürwortet wird. Da diese Belehrungen (die Taten des Lehrers als perfekt anzusehen) dem Höchsten Tantra entlehnt worden sind und im Lam Rim hauptsächlich erscheinen, um den Übenden für die tantrische Praxis vorzubereiten, müssen Anfänger dies mit Vorsicht behandeln. Für die spirituellen Lehrer gilt, sollten sie dieses Gebot des Guru Yoga verdrehen, um naive Schüler auszunutzen, so werden ihren Handlungen wie flüssiges Höllenfeuer direkt in ihre Bäuche fließen.

Der Schüler sollte als prinzipielle Richtschnur immer auf die Vernunft und die Weisheit des Dharma bauen. Ohne diesen Zugang ist es schwierig Dharma-Erfahrungen zu verdauen. Machen Sie eine gründliche Vorabprüfung bevor Sie jemanden als Lehrer akzeptieren und selbst dann folgen Sie diesem Lehrer lediglich innerhalb vernünftiger Konventionen wie diese von Buddha dargelegt wurden. Die Belehrungen, die Taten des Lehrers als perfekt anzusehen, sollten größtenteils für die Praxis des Höchsten Tantra reserviert bleiben, hier werden sie eine neue Bedeutung erfahren. Im tantrischen Fahrzeug ist eins der grundlegenden Yogas die Sichtweise, die Welt als Mandala großer Glückseligkeit zu sehen und sich selbst sowie alle Wesen als Buddhas. Unter diesen Umständen wäre es absurd, sich selbst und alle anderen als Buddhas anzusehen, aber nicht den Lehrer!

Tatsächlich sollte man umso bescheidener werden, je mehr Respekt man entgegen gebracht bekommt, doch manchmal kehrt sich dieses Prinzip um. Ein spiritueller Lehrer muss sich selbst gründlich überprüfen und sollte die Worte von Lama Drom Tonpa erinnern: »Das dir entgegen gebrachte Respekt sollte ein Grund für Demut sein.« Das ist die Verantwortung des Lehrers. Dem Schüler obliegt die Verantwortung, Weisheit in seinem/ihren Entgegenbringen von Vertrauen und Respekt einfließen zu lassen.

Das Problem ist, das wir gewöhnlich nur die Belehrungen beachten, die unsere Täuschungen nähren und jene missachten, die zu deren Auflösung führen würden. Deshalb sage ich, dass die Belehrung, die Handlungen des Lehrers als perfekt anzusehen, wie Gift sein kann. Viele sektiererische Probleme in Tibet wurden davon generiert und genährt.

Der Erste Dalai Lama schrieb: »Der wahre spirituelle Lehrer sieht nach allen lebenden Wesen mit Gedanken erfüllt von Liebe und zollt seinen Lehrern aller Traditionen gleichermaßen Respekt. Dieser fügt nur seinen Illusionen Schaden zu, dem Feind im Inneren.« Die verschiedenen Traditionen sind prinzipiell als Unterteilungen geschickter Methoden für Übende mit unterschiedlichen Kapazitäten. Wenn wir einen Aspekt ihrer Belehrungen nehmen, wie den Grundsatz »alle Handlungen werden als perfekt angesehen« und diesen für sektiererische Zwecke benutzen, wie haben wir dann den vergangenen Meistern ihre Güte, indem sie uns den Dharma gaben und übermittelten, zurückgezahlt? Haben wir sie nicht entwürdigt? Wenn wir ihre Belehrungen falsch verstehen und falsch praktizieren, werden sie kaum erfreut sein. Und so gilt es für einen Lama zwar als verdienstvoll, Rituale auszuführen oder Initiationen zu geben, um den Menschen zu nutzen, aber wenn seine oder ihre Motivation nur auf materiellen Vorteil hinaus läuft, wäre es für diese Person besser, ins Geschäftsleben einzusteigen. Die Maske des Dharma aufzusetzen, um andere Leute auszubeuten ist ein großer Schaden.

Was die Chinesen uns angetan haben, war schlimm, aber nicht so schlimm wie die Auswirkungen, die wir verursachen würden, wenn wir den Dharma für sektiererische Zwecke nutzen oder um Menschen auszubeuten. Dies lässt ihn an der Wurzel verfaulen.

In diesem Zusammenhang sagte der große Yogi Milarepa: ›Wenn die Dharma-Praktizierenden nicht achtsam in ihren sprituellen Übungen bleiben, wird alles was sie tun der Lehre schaden.‹ So wie Darmparasiten einen Löwen töten können, können die Lehren, wenn man sie für Sektierertum und Ausbeutung benutzt, leicht den Dharma zerstören. Der 14. Dalai Lama, in »The Path to Enlightenment«, Seiten 73–74

Wir errichten aufwendige Altäre und unternehmen ausgedehnte Pilgerreisen, doch besser als das ist es, sich an die Lehren des Buddha zu erinnern: »Begehe nie eine negative Handlung; schaffe nur Gutes; das Ziel jeder Praxis ist den Geist zu vervollkommnen«. Wenn unsere Praxis Täuschungen, Negativität und gestörte Geisteszustände vermehrt, wissen wir, dass etwas falsch läuft.

Manchmal wird gesagt, dass der Hauptgrund für den Niedergang des Buddhismus in Indien vor 800 Jahren mit der Praxis des Vajrayana, der von unqualifizierten Leuten ausgeübt wurde, zu tun hatte und mit Sektierertum, hervorgerufen durch Korruption innerhalb der Sangha. Jeder, der tibetischen Buddhismus lehrt, sollte dies im Kopf behalten, wenn er sich auf den Grundsatz »jede Handlung des Lehrers ist als perfekt anzusehen« bezieht. Dies ist eine sehr gefährliche Belehrung, besonders für Anfänger.  ■


¹ Dieser Auszug wurde entnommen und adaptiert aus Der Weg zur Erleuchtung. Er wurde in Snow Lion - Das Buddhistische Magazin & Catalog Ausgabe 23, Number 3, Sommer 2009 veröffentlicht.

© Der Weg zur Erleuchtung von S. H. dem XIV. Dalai Lama, Snow Lion Publications Übersetzer: Glenn H. Mullin. Mit freundlicher Genehmigung von www.snowlionpub.com. Übersetzerin aus dem Englischen: Claudia Landor.

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