Buddhismus im Westen

Reflexionen eines buddhistischen Lehrers

L.S. Dagyab Kyabgön Rinpoche

Im Rahmen der EXPO 2000 fanden mehrere Tagungen statt, die den globalen Dialog (global dialogue) zwischen den verschiedenen Kulturen befördern sollten. Bei der Tagung, die sich dem Schwerpunktthema „Kultur“ widmete, hielt S.E. Dagyab Kyabgön Rinpoche am 20. September 2000 folgende Rede.

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn ich als Tibeter und buddhistischer Lehrer, der seit über 30 Jahren in Deutschland lebt, versuche, auf die Frage zu antworten, ob Kultur eine Heimat braucht, was Kulturen trennt und verbindet, stelle ich zuerst fest, dass das, was uns zunächst trennt, der Begriff „Kultur“ selbst ist.

Begriffe wie „Religion“, „Kultur“, „Philosophie“ sind westliche Begriffe, für die ich im Tibetischen oder im Sanskrit keine Entsprechung finde. Was sich im Westen aus bestimmten historischen Gründen und Konstellationen auseinander entwickelt hat, ist in Asien oft noch untrennbar miteinander verbunden.

So gibt es im Westen eine beliebte Diskussion darüber, ob der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie ist – eine Diskussion, die aus asiatischer Perspektive sinnlos ist, weil der Buddhismus für uns sowohl Religion, als auch Philosophie, als auch Teil unseres kulturellen Erbes ist. Entscheidend ist aber, dass der Buddhismus DHARMA (tibetisch: chos) ist, „die Lehre“, „Das Gesetz“ schlechthin.

Der Buddha-Dharma, die Lehre des Shakyamuni Buddha, ist zweifellos eine der großen kulturschaffenden geschichtlichen Kräfte. Ein Großteil Asiens ist buddhistisch geprägt, und insbesondere meine Heimat Tibet verdankt ihre höhere Geisteskultur jenen buddhistischen Mönchen, die zwischen dem 7. und 12. Jahrhundert nach Christus die buddhistische Überlieferung aus Indien nach Tibet verpflanzten. Die tibetische Schrift ist sogar nur zu dem Zweck erfunden worden, die kanonischen Schriften aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzen zu können. Bis 1959 war die tibetische Kultur daher auch wie keine andere von buddhistischen Prinzipien geprägt.

Der Buddhismus hat also subtile philosophische Systeme hervorgebracht, großartige Kunstwerke inspiriert und die Lebenseinstellung von Millionen Menschen positiv beeinflusst.

Dennoch ist all das nicht das Entscheidende. Der DHARMA des Buddha mehr als bloße Kultur, er ist nicht nur „schriftliche Überlieferung“, sondern vor allem „innerliche Verwirklichung“.

Meditierender

Die essentielle Botschaft des Buddha lautet ja: Wir alle sind in einen Teufelskreis des Leidens verstrickt, der aus einer fundamentalen, angeborenen Selbsttäuschung über die Natur der Realität entspringt. Leiden heißt hier „Unfreiheit“, die Unfreiheit, sein Schicksal selbst zu gestalten. Gier, Hass und Illusion werfen uns immer wieder in unzählige sinnlose Existenzen, die uns immer wieder erfahren lassen, dass es nichts Beständiges und kein dauerhaftes Glück gibt. Wenn die Ursachen des Leidens erkannt und überwunden sind, stellt sich jedoch ein Zustand absoluten Friedens und absoluter Wunschlosigkeit ein, der als „Nirwana“ bezeichnet wird.

Da ist, in groben Zügen, die universelle Botschaft des Buddha, die aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit die Grenzen der indischen Kultur überschreiten und sich in China, Korea, Japan, Vietnam, Thailand, Burma, Sri Lanka, Tibet und Zentralasien verbreiten konnte.

Heute erleben wir, wie die Botschaft des Buddha langsam auch in der westlichen Welt Fuß fasst. Der Buddhismus ist im Westen heute mehr als ein Museumsstück oder das Objekt gelehrter Untersuchungen. Seitdem vor circa 100 Jahren die ersten Westler begannen, dem DHARMA nachzufolgen, sei es als Mönche oder Laienanhänger, hat sich allmählich eine buddhistische Sub-Kultur herausgebildet, die langsam, aber sicher wächst. Während man sich anfangs fast ausschließlich am Theravada-Buddhismus und dem Pali-Kanon orientierte, haben seit den sechziger Jahren auch der japanische Zen-Buddhismus und, seit Beginn der achtziger Jahre, auch der tibetische Buddhismus Eingang gefunden.

Zwar ist die kurzfristige Buddhismus-Mode der neunziger Jahre schon wieder abgeflaut, aber das Interesse am Buddhismus ist konstant und die Zahl buddhistischer Zentren und Zirkel nimmt weiterhin zu. Dies ist sicherlich Ausdruck eines tiefgreifenden Umbruchs in der westlichen Gesellschaft und Kultur. Das Christentum, das Europa jahrhundertelang geprägt hat, hat für einen Großteil der Bevölkerung nachhaltig an Glaubwürdigkeit verloren. Die Erschütterung des traditionellen westlichen Weltbildes durch die Entdeckungen der Naturwissenschaften, die moderne Psychologie und die radikale Dekonstruktion der klassischen Metaphysik durch Kant, Nietzsche und Heidegger haben ein geistig-spirituelles Vakuum hinterlassen.

Für viele, die sich mit dem materialistischen Weltbild nicht zufrieden geben können, und die andererseits nicht mehr an die alten Götter glauben können, ist der Buddhismus attraktiv. Eine Religion ohne Gott, die keine Erbsünde und keine Gnade kennt, die lehrt, dass der Einzelne für sein Schicksal selbst verantwortlich ist, die keinen blinden Glauben verlangt, sondern zu kritischer Selbstprüfung aufruft und überdies über ein beeindruckendes Arsenal spiritueller Techniken verfügt, muss den westlichen Wahrheitssucher ansprechen.

Dennoch kann ich nach 16 Jahren, in denen ich versucht habe, als buddhistischer Lehrer im Westen zu wirken, feststellen, dass die Integration des Buddhismus in die westliche Kultur alles andere als einfach ist. Zu unterschiedlich sind die Mentalitäten, die sich hier begegnen. Auf der einen Seite die buddhistischen Lehrer aus Asien, die wir uns unserer jeweiligen Tradition zutiefst verpflichtet fühlen und versuchen, diese so sauber und authentisch wie möglich weiterzugeben – auf der anderen Seite die Westler, die die Rolle der Schüler spielen und zunächst vor allem Antworten auf ihre ganz persönlichen existientiellen Fragen suchen, und oft noch stark von christlichen Einflüssen geprägt sind.

Auf beiden Seiten gibt es nun zwei Fehlerquellen, die eine echte Erfahrung der befreienden Kraft des DHARMA verhindern:

Zum einen kann man die Lehre des Buddha zu traditinell präsentieren und rezipieren, ohne darauf zu achten, ob die Darstellungsweise, die auch in Asien aus ganz bestimmten historischen Gründen gewählt wurde, hier im Westen sinnvoll ist. So gibt es im buddhistischen Kanon Beschreibung bestimmter Daseinsformen, die man als „Höllen“ bezeichnen kann, oder die Anweisung, den Lehrer in bestimmter Hinsicht als Buddha zu betrachten. Spricht man nun im Westen von „Höllen“ oder „niederen Daseinsbereichen“, wird dies sofort als Strafandrohung empfunden, auf der die meisten mit spontaner Ablehnung und Misstrauen reagieren. Die Verehrung des Lehrers, die in Asien etwas ganz selbstverständliches ist, wird in Europa oft als Aufforderung zur kritiklosen Unterwerfung missverstanden und führt zu Ablehnung oder zu allen möglichen Verrenkungen.

So kann man beobachten, dass manche Westler krampfhaft versuchen, Teil der tibetischen oder japanischen Kultur zu werden, deren Riten und Bräuche zu imitieren und sich als Teil einer großartigen „Überlieferungslinie“ zu fühlen. Dies führt aber oft dazu, dass sie immer sektiererischer und engstirniger werden, sich vom Rest der Gesellschaft isolieren und selbst auf andere buddhistische Richtungen geringschätzig herabblicken. Entweder führt diese Haltung zu einer langfristigen Selbstentmündigung und Infantilisierung, wie wir sie sonst auch bei Sekten beobachten können, oder zur Rebellion gegen das starre Korsett der Regeln und Riten.

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, sich aus dem Schatzhaus der buddhistischen Überlieferung nur gerade das herauszusuchen, was bunt und exotisch wirkt und sich leicht konsumieren lässt. Wenn man die Grundlehren des Buddhismus dabei vernachlässigt, landet man irgendwann in der Beliebigkeit des modernen Esoterik-Marktes oder in einer selbstgestrickten, einseitigen Interpretation des Dharma, die ebenfalls leicht sektiererische Züge annehmen kann. Aus dem Buddhismus wird dann eine Art von Psychotherapie oder ein exotischer Kult mit zum Teil abergläubischen Zügen.

Zum Glück kann man sagen, dass die meisten westlichen Buddhisten sich von beiden Extremen fernhalten und bestrebt sind, den DHARMA auf unspektakuläre Weise im Rahmen des normalen Alltagslebens umzusetzen.

Wie dieser Prozess ausgehen wird, ist ungewiss. Auch in Tibet hat es 500 Jahre gedauert, bis ein eigenständiger tibetischer Buddhismus entstanden ist. Da hier im Westen ja alles schneller geht, dauert es hier vielleicht nur 400 Jahre …

Sicher ist, dass auf beiden Seiten noch Lernprozesse nötig sind. Die Westler werden lernen müssen, ihre Projektionen zu durchschauen, nicht jeden Lama als vollerleuchteten Buddha oder spirituellen Vaterersatz zu betrachten, und die buddhistischen Traditionen nicht als absolut unfehlbar und makellos zu verklären. Überwinden müssen sie auch ihre Minderwertigkeitsgefühle, die einer erfolgreichen buddhistischen Praxis langfristig im Wege stehen. Weder ist ihre eigene Kultur gegenüber der asiatischen völlig wertlos, noch sind sie selbst hoffnungslose Fälle, die sich am besten dem Lama oder Guru bedingungslos unterwerfen sollten, um von seiner Gnade alles Heil zu erwarten.

Auf der anderen Seite wird sich der traditionelle asiatische Buddhismus, dessen Strukturen vielfach genauso verkrustet sind wie die der christlichen Großkirchen, mit dem Erbe der Aufklärung auseinandersetzen müssen. Die Idee der Demokratie, die Methoden der Naturwissenschaft und der historisch-kritischen Forschung, die Ökologie, das subjektzentrierte westliche Denken, die westliche Psychologie und last but not least der berechtigte Anspruch der Frauen auf Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen sind eine Herausforderung auch für die asiatischen Buddhisten und Dharma-Lehrer.

Hoffen wir, dass auf diese Weise ein fruchtbarer Austausch in Gang kommt, der sowohl die westliche wie die östliche Kultur bereichert. Wenn dadurch etwas mehr Gelassenheit entsteht, wir für uns selbst und die Lebewesen, mit denen wir diesen Planeten teilen, etwas mehr Liebe und Mitgefühl entwickeln, wenn Hass, Gier und Dummheit, die immer wieder zu Gewalt, Ausbeutung, Sucht und Blindheit führen, etwas reduziert werden, haben wir alle gewonnen - nicht nur die Buddhisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.  ■

Dagyab Rinpoche

Loden Sherab Dagyab Rinpoche wurde 1940 im Osten Tibets geboren und mit vier Jahren als der IX. Kyabgön (Schutzherr) der Region Dagyab anerkannt. Er zählt zu den ranghöchsten Tulkus (Hotuktu).

Als die VR China im Jahre 1959 Tibet überfiel und besetzte floh er zusammen mit dem Dalai Lama nach Indien ins Exil. Nach seiner Flucht aus Tibet erwarb er im indischen Exil den akademischen Grad eines Geshe Lharampa. Von 1964 bis 1966 leitete er das Tibethaus in New Delhi, welches als international anerkanntes Institut zur Erhaltung und Förderung der tibetischen Kultur gilt.

Einer Einladung der Universität Bonn folgend kam Dagyab Rinpoche 1966 nach Deutschland, lebte für ca. vierzig Jahre mit seiner Familie in der Nähe von Bonn und arbeitete an der Bonner Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2009 lebt er mit seiner Familie in Berlin. Er ist spiritueller Leiter des Tibethauses in Frankfurt am Main.

S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche wird als derjenige tibetisch-buddhistische Meister angesehen, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie, aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- und Kagyü-Schulen hält.

© Chökor und Dagyab Rinpoche
Dieser Artikel wurde im April 2001 in Chökor Nr. 30 veröffentlicht.

Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis von Chökor.