Ein heimlicher Krieg in Shangri-La

von Patrick French

Ein tibetischer Filmemacher enthüllt, wie die CIA den Tibetern in ihrem Kampf gegen ihre Unterdrücker half.

An einem Morgen im Frühjahr 1974 trat ein 15jähriger tibetischer Flüchtling namens Tenzing Sonam in den Hof seiner Internatsschule in Darjeeling, um die dort angeschlagene Wandzeitung zu lesen. „Es gab da eine Schlagzeile, die etwa lautete: ‚Tibetische Banditen toben – Anführer der Kämpfer verhaftet’,“ erinnert er sich. „Ich las weiter, und mir wurde klar, daß es sich bei diesem Anführer um meinen Vater handelte. Ich ging in meine Klasse und sagte nichts zu den anderen Schülern. Später kam meine Mutter in die Schule und erzählte mir, was geschehen war, oder jedenfalls soviel, wie sie wußte.“

Bis dahin hatte Tenzing Sonam geglaubt, sein Vater sei in Neu-Delhi und arbeite dort für die nach der chinesischen Invasion Tibets 1950 gebildete tibetische Regierung im Exil. Tatsächlich war er in Nepal gefangengenommen worden, wo er in einer der am wenigsten bekannten Operationen des Kalten Krieges einen von der CIA inspirierten Stellvertreterkrieg gegen die Chinesen unter dem Codenamen „ST Circus“ koordinierte.

Jetzt, nach 24 Jahren, haben Tenzing Sonam und seine Frau Ritu Sarin für die BBC einen bemerkenswerten Dokumentarfilm gedreht, der die Tätigkeit der CIA in Tibet enthüllt und zeigt, wie verzweifelt die Tibeter kämpften, um die Chinesen loszuwerden. Zum ersten Mal haben ehemalige CIA-Agenten und tibetische Veteranen Washingtons heimlichen Krieg in dem abgelegenen buddhistischen Himalaya-Königreich offengelegt.

Es zeigt sich, daß sein Vater Lhamo Tsering – wie sein Sohn und wie die meisten Tibeter benutzt er keinen Familiennamen – weit mehr als einfach ein Banditenführer war: Er war fast 20 Jahre lang der Verbindungsmann zwischen dem tibetischen Widerstand und der CIA. Als die Widerstandskämpfer später von der CIA fallengelassen wurden, wurde er verhaftet und saß acht Jahre in einem nepalesischen Gefängnis. Heute, als Endsiebziger, lebt er im Exil in Indien. Als junger Mann hatte er Anfang der vierziger Jahre ein Stipendium für ein College in der chinesischen Stadt Nanjing erhalten. „Meine Familie war eine Bauernfamilie aus Nagatsang in Osttibet, das damals von einem chinesischen Warlord kontrolliert wurde“ sagt Tenzing Sonam. „Meine Großeltern dachten, es wäre gut, wenn einer ihrer Söhne Chinesisch lernen würde, um Verständnis für die chinesische Arbeitsweise zu erwerben.“

Während seines Aufenthalts in Nanjing wurde Lhamo Tsering Sekretär und Vertrauter des älteren Bruders des heutigen Dalai Lama, Gyalo Thondup. Als die chinesischen kommunistischen Truppen 1949 begannen, nach Tibet einzufallen, flohen die beiden von Nanjing nach Shanghai und setzten sich auf einem Schiff nach Indien ab. Nach einer kurzen Rückkehr nach Tibet ließ sich Lhamo Tsering in Kalimpong in der Nähe von Darjeeling nieder.

Erst 1958 – er hatte inzwischen ein Hausmädchen eines anderen Verwandten des Dalai Lama kennengelernt und geheiratet – gewann Lhamo Tsering das völlige Vertrauen Gyalo Thondups. Dieser sagte ihm, daß er mit der CIA zusammenarbeite, die insgeheim begonnen habe, auf der entlegenen Pazifikinsel Saipan tibetische Widerstandskämpfer auszubilden.

„Mein Vater wurde in ein Ausbildungslager in Virginia geschickt,“, berichtet Tenzing Sonam, „und später nach Camp Hale in den Rocky Mountains in Colorado. Es war unglaublich geheim, auch in den USA wußten nur wenige, was da vorging. Die meisten Tibeter lernten, wie man Sabotageakte verübt, Minen legt, Waffen bedient, Sprengsätze zündet und dergleichen mehr, aber weil mein Vater eine bessere Bildung hatte und Englisch und Chinesisch sprach, wollte ihn die CIA als Koordinator haben. Er wurde in Spionage ausgebildet. Sie brachten ihn sogar dazu, in der Kongreß-Bibliothek Nachrichten in toten Briefkästen zu hinterlegen.“

Lhamo Tsering kehrte nach Darjeeling zurück, wo er der Vor-Ort-Verwalter der Operation ST Circus wurde, der tibetische Flüchtlinge für die Ausbildung auswählte und die nachrichtendienstliche Tätigkeit in Tibet koordinierte. Einmal im Monat ließ er sich in einem Frachtflugzeug nach Kalkutta mitnehmen. „Er wartete dann mit einer Zeitung unter dem Arm in der Park Street, bis ein zerbeultes Auto kam.“ sagt Tenzing Sonam. „Auf dem Rücksitz saß ein Amerikaner, normalerweise ‚Mr. John’ – mein Vater kannte ihn nur unter diesem Namen –, der ihm ein großes Bündel Rupien überreichte. Mein Vater übergab ihm dann, was er an Informationen hatte, und sie sprachen über Einschleusung von Waffen oder was sonst gerade anlag.“

In Tibet versuchten die von der CIA ausgebildeten Tibeter, sich an den einheimischen Widerstand anzuschließen, an die Bewegung Chushi Gangdrug oder ‚Vier Flüsse, sechs Bergketten’, die weite Teile Südtibets kontrollierte. Als die chinesischen Kommunisten Ende der fünfziger Jahre ihre Macht festigten, entfaltete sich ein zunehmend gewalttätiger Krieg zwischen den tibetischen Rebellen und Mao Zedongs Volksbefreiungsarmee.

Fast 300 Tibeter wurden in den Rocky Mountains ausgebildet, viele von ihnen wurden aus amerikanischen Flugzeugen, die heimlich über Tibet flogen, mit Fallschirmen abgesetzt. IhreÜberlebensrate war äußerst niedrig, das einzige noch lebende Mitglied der ersten Mission, Bapa Legshay, sagte über die Operation, es sei gewesen, „als würde man Fleisch in das Maul eines Tigers werfen. Wir waren entschlossen zu sterben.“ sagt er, „man hatte uns Zyanidkapseln gegeben, damit wir nicht lebend von den Chinesen gefangen werden konnten.“

Im März 1959 floh der Dalai Lama, verkleidet als einer seiner eigenen Leibwächter, aus der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Begleitet von seinen höheren Beamten ritt er zur indischen Grenze. Dort kam ihm die Verbindung zu den Amerikanern besonders zustatten, wenn auch in einer anderen Weise als es die romantisierte Version seiner Flucht in den jüngsten Hollywood-Filmen über Tibet darstellt.

Mit einem durch eine Handkurbel angetriebenen Funkgerät schickte Athar, einer der in den USA ausgebildeten tibetischen Widerstandskämpfer, eine Nachricht nach Washington, in der er um politisches Asyl für den Dalai Lama in Indien bat. Sie wurde am späten Samstagabend von John Greaney, einem höheren CIA-Beamten, empfangen, der sofort in einem dringenden Anruf seinen Chef benachrichtigte. Vier Stunden später schickte der CIA-Resident in Neu-Delhi ein Telegramm nach Washington, in dem er mitteilte, daß der indische Premierminister Jawaharlal Nehru dem Dalai Lama und seiner Begleitung politisches Asyl gewährt habe.

In den sechziger Jahren änderte die Operation ST Circus ihren Kurs. Statt ausgewählte Tibeter in den USA auszubilden, beschloß die CIA, eine größere Operation in Mustang, einem gebirgigen Landstrich, der von Nepal in das südliche Tibet hineinragt, in Gang zu setzen. Tibetische Gruppen sollten mit Mörsern, Karabinern und rückstoßfreien 55mm-Gewehren ausgerüstet werden und Guerillaeinheiten bilden, die in Tibet Stoßtruppunternehmen durchführen wurden. Aus kürzlich freigegebenen nachrichtendienstlichen Dokumenten der USA geht hervor, daß die CIA jährlich über 1,7 Mio. Dollar für diese Operation aufgewendet hat.

Lhamo Tsering hatte jetzt eine schwierige Aufgabe zu bewältigen. Als sich unter den 100 000 tibetischen Flüchtlingen in Indien und Nepal Gerüchte über die neue Basis in Mustang ausbreiteten, machten sie sich zu Hunderten auf den Weg, wild entschlossen, für die Freiheit ihres Vaterlandes zu kämpfen. Aber gerade zu diesem Zeitpunkt hatte Präsident Eisenhower nach dem Abschuß eines U2-Spionageflugzeugs über der Sowjetunion im Mai 1960 die heimlichen Überfluge verboten, was bedeutete, daß keine Versorgungsgüter mehr für die tibetischen Rebellen abgeworfen werden konnten.

„Es war eine schreckliche Situation,“ sagt Tenzing Sonam. „Da waren über 2000 Menschen oben in den Bergen und hatten nichts zu essen. Sie kochten sogar ihre Schuhe und aßen das Leder. Menschen starben. Mein Vater und die anderen Führer konnten nichts tun, bis die Amerikaner später im Jahr die ersten Waffen und Versorgungsgüter abwarfen.“

In den sechziger Jahren organisierten sich die Guerillas in Mustang wie eine richtige Armee undunternahmen wiederholt Vorstöße nach Tibet. Der erfolgreichste, an der Überlandstraße Xinjiang-Lhasa 1961, brachte eine erhebliche Beute an Dokumenten.

Vierzig bewaffnete Reiter lauerten einem chinesischen Militärkonvoi auf. Einer der Kämpfer namens Acho erinnert sich: „Der Wagen kam an einen Haltepunkt, der Fahrer wurde ins Auge geschossen, sein Gehirn spritzte nach hinten und der Wagen kam zum Stehen. Der Motor lief noch. Dann schossen wir alle auf ihn. Es war da eine Frau mit einem hohen Offiziersrang, sie hatte einen blauen Sack voller Dokumente, die wurden von unserem Anführer sorgfältig zusammengesammelt.“

Die Dokumente zeigten zum ersten Mal das Ausmaß des durch Maos Großen Sprung nach vorn ausgelösten Hungers und der Unruhen in China und Tibet sowie die Ursachen des chinesischsowjetischen Zerwürfnisses. Ken Knaus, ein CIA-Beamter, nennt den Inhalt des blauen Sacks „eines der größten nachrichtendienstlichen Beutestücke in der Geschichte der CIA“.

Dennoch waren die Aktivitäten der Freiheitskämpfer von Mustang nur von begrenzter Wirkung. Die Guerillas waren für die USA vor allem deshalb nützlich, weil sie den Chinesen Ärger bereiten konnten und weil sie Informationen über ein Land besorgen konnten, das von der Außenwelt abgeschlossen war. Sie schafften es aber niemals, innerhalb Tibets eine ordentliche Widerstandsarmee auf die Beine zu stellen, da sie keinen ausreichend starken militärischen Rückhalt hatten.

Während der Kulturrevolution wurden Tibets alte Klöster und Tempel zerstört, viele Mönche und Nonnen wurden eingekerkert oder ermordet, und eine Hungersnot wütete im Land. Gleichzeitig versank die Mustang-Operation in einer internen Fehde zwischen der von der CIA ausgebildeten Kämpfergeneration und den Stammesführern, von denen die ursprüngliche Widerstandsbewegung ausgegangen war.

Den Todesstoß versetzte der tibetischen Widerstandsbewegung Präsident Nixons historische Annäherung mit China 1971/72. Mit dem Tauwetter in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen wurden die Tibeter sich selbst überlassen. Es folgte eine letzte Finanzspritze, dann war Schluß mit dem Engagement der CIA für Mustang.

Die Basis in Mustang setzte ihre Operationen bis 1974 fort, dann entschied die nepalesische Regierung unter chinesischem Druck, der Sache ein Ende zu setzen. Als die Führer von Mustang sich nicht ergeben wollten, intervenierte der Dalai Lama, um ein Blutbad zu verhindern. Er schickte eine Botschaft auf einem Tonband, das in allen Lagern abgespielt wurde. Darin befahl er den Kämpfern, ihre Waffen niederzulegen.

Die Wirkung war verheerend. Die Rebellen sahen keine Alternative als sich ihrem geistlichen und politischen Führer zu beugen, aber für viele von ihnen war eine solche Kapitulation gleichbedeutend mit Selbstmord. Mehrere Soldaten stürzten sich in einen Fluß und ertranken, ein Mann, ein von der CIA ausgebildeter höherer Offizier namens Pachen, übergab seine Waffen und schlitzte sich gleich darauf mit einem Dolch die Kehle auf. Wangdu, der Kommandeur von Mustang, versuchte, nach Indien zu fliehen, aber er geriet am Tinker-Paß in einen Hinterhalt der nepalesischen Armee und wurde erschossen.

Tenzing Sonam betont: „Das waren Männer, die seit Mitte der fünfziger Jahre gegen die Chinesen gekämpft hatten, sie waren mit Gewehren und Messern aufgewachsen und sollten nun ihre Waffen abgeben – damit war für sie alles zuende.“

Sein Vater wurde in Pokhara verhaftet und in das Zentralgefängnis von Kathmandu gebracht, wo er wegen Aushebung einer Rebellenarmee und Waffenschmuggels angeklagt wurde. Obwohl es eine Zeitlang so aussah, daß ihnen die Todesstrafe drohte, wurden er und sechs weitere Führer des tibetischen Widerstands zu lebenslanger Haft verurteilt. 1981, nach einer vom König von Nepal ausgesprochenen Amnestie, wurde er entlassen.

Tenzing Sonam sieht in den Kämpfen der tibetischen Widerstandsbewegung „ein vergessenes Kapitel der jüngeren tibetischen Geschichte. Es fügt sich nicht in unser Bild von den freundlichen, glücklichen, lächelnden Menschen mit klingelnden Glocken hoch oben in Shangri-La. Es hat in Tibet eine Kultur der Gewalt gegeben. Wir haben uns nicht einfach zu Boden geworfen und die Chinesen gebeten, uns zu überrollen.“

Die Erforschung der Geschichte des CIA-Engagements in Tibet hat bei Tenzing bewirkt, daß er seinen Vater in einem neuen Licht sieht. „Es war eine Offenbarung für mich. Ich fühle mich ihm heute viel näher, nachdem ich weiß, was er während meiner gesamten Kindheit getan hat. In gewisser Weise ist dieser Film ein Akt der Ehrerbietung durch den Sohn. Ich meine, es ist schon erstaunlich, was er bei seinem Hintergrund und bei seiner kompromißlosen Hingabe an die Sache der tibetischen Freiheit getan hat, er und eine ganze Generation unseres Volkes.“  ■

Für Tibet-Forum übersetzt von Bernd Bentlin.

PATRICK FRENCH (geb. 1966) ist ein britischer Autor und Historiker, der in London lebt. Ausgebildet wurde er an der Universität von Edinburgh, an der er Englisch und amerikanische Literatur studierte. Er ist Autor verschiedender Bücher, wie z.B. »Younghusband: The Last Great Imperial Adventurer« (1994), »Tibet, Tibet: A Personal History of a Lost Land« (2004), »The World Is What It Is: The Authorized Biography of V.S. Naipaul« (2008) und »India: A Portrait« (2012).

Siehe auch: http://www.theindiasite.com.

© Monika Deimann-Clemens und Tibet-Forum

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Monika Deimann-Clemens und Patrick French. Der Artikel erschien am 14. November 1998 im Magazin des The Daily Telegraph (London) unter dem Titel „A Secret War in Shangri-la“. Deutsche Übersetzung veröffentlicht in Tibet-Forum Nr. 1/1999, S. 17 ff.