Interview mit dem XIV. Dalai Lama zur Nonnenordination im Tibetischen Buddhismus

Michaela Doepke | Buddhismus aktuell

Weltweit fördert Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama Frauen und ermutigt sie sogar, Führungspositionen anzutreten. Nur in seiner eigenen Tradition zeigt er sich machtlos, eine Gleichberechtigung von Mönchen und Nonnen durchzusetzen. Michaela Doepke befragte ihn dazu in Jispa, Nordindien, wo er auf über 3 000 Metern Höhe Belehrungen gab. Hier ein Ausschnitt aus der Pressekonferenz im Himalaja.

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Michaela Doepke: Die meisten buddhistischen Frauen in der modernen westlichen Welt verstehen nicht, warum es in der tibetischen Tradition keine Gleichheit zwischen den Nonnen und Mönchen gibt. Was könnten wir tun, um die Entwicklung der Gleichstellung von Frauen im tibetischen Buddhismus zu fördern?

S. H. Dalai Lama: Es steht außer Frage, dass der Buddha selbst Frauen gegenüber Männern nicht diskriminiert hat. Der höchste Rang im Kloster für einen Mann ist der eines Bhikshu. Ebenso ist der höchste Rang für eine Frau der einer Bhikshuni. Im Grunde haben sie also das gleiche Recht. Und speziell im Tantrayana ist das Weibliche sogar wichtiger. Sehen Sie, wenn wir das Weibliche kritisieren, ist das ein Verstoß gegen das Vajrayana-Gelübde. Im Vajrayana ist aber nicht davon die Rede, dass es Frauen nicht erlaubt ist, das Männliche zu kritisieren. Deshalb hätten wir Männer allen Grund uns zu beschweren (lacht).

Es gibt jedoch ein Problem mit der höchsten Ordination zur buddhistischen Nonne, der Bhikshuni. Hier gibt es verschiedene Traditionen des klösterlichen Systems. Thailand, Burma usw. gehören zum Theravada-System. Das tibetische Klostersystem folgt dem Vinaya (Ordensregeln) der Mulasarvastivadins. Es gibt vier große Traditionen in der Vinaya-Tradition.¹ In China gibt es mehrere Traditionen.² Ab dem 8./9. Jahrhundert führte Santarakshita das klösterliche System in Tibet ein. Ich denke, dass er den Mulasarvastivadins angehörte. Als im 11. Jahrhundert Atisha nach Tibet kam, baten ihn einige Tibeter, die Bhikshu-Ordination zu geben, während einige seiner älteren Schüler wie Dromtönpa ihn baten, keine Vinaya-Gelübde zu geben, denn Atishas Tradition war nicht die der Mulasarvastivadins.³ Sie dachten, es sei besser, nur eine Tradition zu haben, denn unter den Vinaya-Traditionen gibt es leichte Unterschiede. Zum Beispiel enthält der Pratimoksha in der Theravada-Tradition 227 Regeln. In unserer Mulasarvastivada-Tradition enthält der Pratimoksha 253 Regeln. So gibt es einige Unterschiede. Nach unserer Tradition muss die Ordination einer Bhikshuni von einem Bhikshuni-Abt bzw. einer Bhikshuni-Äbtissin durchgeführt werden. Da in unserer Tradition keine Bhikshuni-Äbtissin verfügbar ist, ist nach unserer Tradition hier Schluss. Das ist das Problem.

In den letzten 30 Jahren haben wir deshalb untersucht, ob es für einen solchen Fall vielleicht ein paar Ausnahmeregelungen gibt. Einige Gelehrte sagen, Ja, eine Ausnahme sei möglich, während die Mehrheit immer noch Nein sagt. Also bin ich machtlos, zumindest entsprechend dem Vinaya-System (lacht). Ich kann nicht wie ein Deutscher handeln. Nach dem Vinaya-System liegt die endgültige Entscheidung bei einem Sangha, einer Gruppe von Mönchen, sie kann nicht von einem einzelnen Mönch getroffen werden. Ich denke, hier müssen wir uns ein wenig beim Buddha selbst beklagen. Solange er lebte, war immer er die letzte Instanz, alles lag in seiner Hand. Doch nach ihm ging seine Nachfolge nicht an eine einzelne Person über, sondern fortan lag die Zuständigkeit bei einer Gruppe von Mönchen. Das ist das Problem, mit dem wir es jetzt zu tun haben.

Soweit es die Studien betrifft, haben wir solche Probleme nicht, da gibt es keine solche Einschränkung. Es ist jetzt etwa 40 Jahre her, dass ich in einem Nonnenkloster in Dharamsala damit begonnen habe, ernsthafte Studien einzuführen, wie für die Mönche in den großen Klöstern. Inzwischen haben vie-le dieser fortgeschrittenen Nonnen durch das Studium und philosophische Debatten ein hohes Bildungsniveau erreicht. Die Qualität ist hervorragend. Ich denke, es ist wichtig, das klarzumachen. Andernfalls würden mich vielleicht einige Feministinnen aus dem Westen beschuldigen: Der Dalai Lama sollte nicht die Autorität in dieser Frage sein, sondern die Frauen sollten das selbst entscheiden.

Michaela Doepke: Meinen Sie, der nächste Dalai Lama sollte eine Frau sein?

S. H. Dalai Lama: Ja, ich glaube es ist 20, 30 Jahre her, dass mir diese Frage in Frankreich, von einer Frauenzeitschrift zum ersten Mal gestellt wurde: Könnte der Dalai Lama in Zukunft auch als Frau wiedergeboren werden? Ich sage dazu Ja. Denn erstens gibt es schon seit vielen Jahrhunderten hohe weibliche Reinkarnationen. Ein Beispiel ist Samding Dorje Phagmo.⁴ Diese Inkarnation gibt es schon seit etwa 700 Jahren. Diese Reinkarnation ist fast so alt wie die des Karmapa. Und sehen Sie, auch in unserer Zeit gibt es einige hohe weibliche Lamas. Ja, wir akzeptieren weibliche Reinkarnationen, weibliche Gurus, weibliche Lehrer. Der Zweck von Reinkarnationen ist es, Menschen mit der Lehre des Buddhismus zu dienen. Und wenn die Umstände so beschaffen sind, dass eine weibliche Form nützlicher ist, warum nicht? Das hatte ich gesagt. Und im Scherz hatte ich hinzugefügt: Für den Fall, dass die Reinkarnation des Dalai Lama eine Frau ist, sollte sie sehr attraktiv sein, denn so kann sie mehr Einfluss nehmen. Wenn es eine hässliche Frau wäre, wäre sie vielleicht nicht so effektiv. Ist das nicht so? Wie denken Sie darüber (lacht)? Gut. Vielen Dank!  ■


Anmerkungen

¹ Hier bezieht sich S. H. auf die traditionelle tibetische Darstellung der Einteilung der achtzehn Schulen in vier Haupttraditionen. Danach sind die vier Haupttraditionen: Sarvastivada, Mahasanghika, Sthavira und Sammitya.

² Es wurden mehrere Vinayas ins Chinesische übersetzt: Sarvastivada, Mulasarvastivada, Dharmaguptaka, Mahisasaka und Mahasanghika. Praktiziert wird jedoch nur die Dharmaguptaka-Tradition. Dagegen gibt es für die Theravada- und die tibetische Tradition jeweils nur einen Vinaya, den Pali-Vinaya und den Mulasarvastivada-Vinaya.

³ Er war Mahasanghika.

⁴ Samding Dorje Phagmo begründete eine der wenigen weiblichen Tulku-Linien. Im frühen 15. Jahrhundert wurde die Prinzessin Chökyi Drönme als Emanation der Meditationsgottheit Dorje Phagmo angesehen. Sie ließ sich daraufhin zur Bhikshuni ordinieren.

Anmerkungen und Übersetzung aus dem Englischen: Bhikshuni Jampa Tsedroen (Dr. Carola Roloff)

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© Buddhismus aktuell, Ausgabe 01/2011.
Mit freundlicher Genehmigung von Michaela Doepke.
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