Tibet: Ein Projektionsfeld westlicher Phantasien?

Luc Schaedler

Die Wahrheit ist vielleicht nicht das Ziel, sie ist vielleicht der Weg.Chris. Marker (1962)
By listening to its Tibetan echoes, the West could perhaps discover its own questions.Peter Bishop (1989)

Vorbemerkung

Das Alte Ladakh

Der folgende Artikel beruht auf Eindrücken, die ich während der Visionierung von weit über hundert „Tibetfilmen“ gesammelt habe. Bei den im Artikel besprochenen fünf Werken wird eine Struktur deutlich sichtbar, die sich auch in fast allen Tibetfilmen wieder findet – Tibet wird zum Projektionsfeld westlicher Phantasien. Die versuchte Analyse soll als Instrument (und Methode) dienen, Filme, die über Tibet gemacht wurden (und werden), kritisch anzuschauen und die eigene Person in die Reflektion miteinzubeziehen. Stellvertretend bezieht sich die Analyse auch auf Filme, die in den letzten Jahren Schweizer- und im Deutschen Fernsehen zu sehen waren, wie: „Das Alte Ladakh“ (1987), „Tibet Widerstand des Geistes“ (1989), „Lung-Ta“ (1990), die „Brückner“-Filme (arte, 1994), und natürlich auch „Little Buddha“ (1994) von Bertolucci.

Ornament

Die meisten Dokumentarfilme (und Spielfilme) über Tibet beginnen mit einem Schwenk über die schneebedeckten Berge der Himalayas, zerfurchte Gesichter von meditierenden Mönchen oder die Golddächer von buddhistischen Tempeln.

Überblendungen lassen Buddhas und brennende Dochte von Butterlampen mit Gesichtem von betenden Gläubigen verschmelzen. Andere beginnen mit der Aufnahme einer grossen Weltkarte, die zeigt, wo Tibet liegt – vor allem aber wie abgelegen und schwierig erreichbar es ist. Die Musik zu diesen Bildern wechselt je nach Film, von psychedelischer Synthesizermusik zu tiefen tibetischen Klostergesängen oder pompöser klassischer Musik, die an Abenteurfilme Hollywoods erinnert. Verzögert setzt der Kommentar ein, der uns durch den ganzen Film fuhrt. Drei Muster, die für alle Tibetfilme typisch sind, lassen sich aus solchen Anfangssequenzen herauskristallisieren: das Mystische, die Unzugänglichkeit und die Sprachlosigkeit.

Die Vorstellung des Mystischen hat sich über die Jahre (seit den ersten Kontakten Europas mit Tibet im 16 Jhd.) kaum verändert: Tibet wird im Westen als ein abgeschiedenes und dafür umso geheimnisvolleres Land gesehen; mit „hochgelegenen Klöstern“, einem „jahrhundertealten mystischen Wissen“, „lebenden Buddhas“ und „zu Wunder fähigen, meditierenden Yogis“. Die Invasion der Volksrepublik China in den 50er-Jahren und die massive Zerstörung der tibetischen Kultur vor (!) und während der Kulturrevolution, haben diesen (westlichen) Phantasien keinen Abbruch getan. Sie haben diese lediglich geographisch von Tibet nach Indien verlegt, wo der Dalai Lama mit der Elite der Mönche und etwa hundertausend tibetischen Flüchtlingen seit über dreissig Jahren im Exil lebt.

Nicht unähnlich verhält es sich mit der Unzugänglichkeit, die sich über die Jahre ebenfalls kaum verändert hat: während früher Transportprobleme (Distanz, Berge, mangelnde Infrastruktur, Gepäck, Geld etc.) und politische Faktoren dafür verantwortlich gemacht wurden, wird sie heute einfach behauptet: Tibet soll das „verbotene Land“ bleiben. Sowohl das Mystische, wie auch die Unzugänglichkeit Tibets, vor allem aber ihre künstliche Aufrechterhaltung, entsprechen viel mehr westlichen Phantasien, als der Wirklichkeit.

Tibet als Projektionsfeld westlicher Phantasien hat eine lange Geschichte, die parallel zur kolonialistischen Ausdehnung Europas nach Asien verlief. Peter Bishop hat in seinem Buch „The Myth of Shangri-La“ (1989), über tibetische Abenteurer- und Reiseliteratur, überzeugend aufgezeigt, wie sich die Vorstellungen von Tibet über die Jahrhunderte den Entwicklungen in Europa angepasst haben. Jede Generation hat ihr eigenes Tibet erfunden: während anfänglich die Landschaft („unüberwindliche Berge“, „versteckte Gebirgspässe“, „endlose Hochebenen“ etc.) die Phantasie des Westens anregten, nahm später das „verbotene Lhasa“ diesen Platz ein. Der Mythos um Lhasa wiederum, wurde nach der militärischen Eroberung der „heiligen Stadt“ durch England (1904), vom Interesse für den tibetischen Buddhismus abgelöst, der nun als letztes Refugium des mystischen Erbes von Tibet angesehen wurde (und wird).

Diese westliche Konzeption von Tibet wiederspiegelt aber auch reale Machtverhältnisse, die im dritten Muster, der aufgezwungenen Sprachlosigkeit Tibets, am deutlichsten zum Ausdruck kommen: Tibet hat keine Stimme, es wird vertreten. Dies lässt sich vor allem anhand der Filme über Tibet (deutlich) aufzeigen. Werden die Tibeterlnnen in den Filmen zitiert, so geschieht dies nur als Fussnote oder als Beweis für eine aufgestellte Behauptung des Filmemachers. Tibet als Subjekt existiert nicht; nur der Filmemacher, der nach etwas sucht – und es übrigens meistens auch findet (!). Die Wahrheit über Tibet wird nicht zusammen mit den Tibeterlnnen im Film entwickelt, sondern vom Filmemacher behauptet. Das gilt auch in einem starken Mass für die Filme, die den tibetischen Buddhismus behandeln. Es gibt keinen Film über Tibet, der nicht in irgendeiner Form den Buddhismus behandelt. Je nach Genre ändert sich einzig die Motivation und die Genauigkeit mit der er dargestellt wird.

Die Archivfilme, noch vor der chinesischen Invasion anfangs der 5oer-Jahre in schwarz/weiss gedreht, sind ausschliesslich Expeditions- und Reiseberichte. Im Zentrum dieser Filme steht immer die beschwerliche Reise und die Behauptung der Akteure, die ersten gewesen zu sein, denen es gelungen ist, ins „verbotene Tibet“ einzudringen. Der tibetische Buddhismus wird inhaltlich kaum behandelt, dafür filmisch dokumentiert: es sind die ersten Filmaufnahmen überhaupt von „unzugänglichen“ Klöstern, buddhistischen Fresken, Buddhastatuen, praktizierenden Mönchen, „magischen“ Ritualen und Pilgersreisenden, die „unermüdlich“ ihre Gebetsmühlen drehen. In den Kommentaren der Filmemacher äussert sich eine Faszination für die Omnipräsenz des Buddhismus im Alltag der Tibeterlnnen, während ihnen aber ein tiefergreifendes religiöses Verständnis fehlt.

Die Politfilme und TV-Reportagen seit den 60er-Jahren beschäftigen sich hauptsächlich mit der (idealisierten) Geschichte und dem politischen Schicksal Tibets. Bezeichnenderweise gleichen sie in ihrem Aufbau den Archivfilmen. Die politischen Abenteuer und die grossen Risiken, die der Filmemacher auf sich nimmt, um die Greueltaten der Volksrepublik China an Tibet aufzudecken, stehen dabei im Zentrum. Der tibetische Buddhismus wird behandelt, weil er untrennbar zur (mystifizierten) Geschichte Tibets gehört und gleichzeitig politisch funktionalisiert werden kann. Die Darstellung der „gewaltfreien Religion“, deren „jahrhundertealtes mystisches Wissen“ zerstört wird, soll die gewalttätige Seite der kommunistischen Besatzer kontrastieren. Ironischerweise schwingt in der Wut und Trauer um die fortschreitende Zerstörung Tibets immer etwas Selbstmitleid mit - nicht dem tibetischen Volk geht offenbar etwas verloren, sondern dem Westen!

Die Religionsfilme machen den grössten Teil der Tibetfilme aus und sind die Fahnenträger des Mythos, der sich um Tibet gebildet hat. Erstaunlicherweise fehlt ein allgemeiner Überblick über den tibetischen Buddhismus unter diesen Filmen. Es sind nur die visuell interessanten, esoterischen Aspekte – Klostertänze in abgelegenen Klöstern, seltene „wiederentdeckte“ Rituale und Initiationen, das Phänomen der Reinkamation oder der sexuelle Symbolismus des Tantrismus – die gefilmt werden. Was in den Religionsfilmen gemeinhin als tibetischer Buddhismus verkauft wird, ist eigentlich nur das spezialisierte Wissen einer kleinen, geschulten Mönchselite, die sich ihr ganzes Leben lang philosophischen Problemen widmet. Die Auswirkungen dieses spezialisierten Wissens auf den eher unspektakulären Alltag der einfachen Mönche, Nonnen, Nomaden und Bauern wird meistens nur dann erwähnt, wenn sich damit die „Zufriedenheit“, das „Verwurzeltsein in der eigenen Kultur“ und die „tiefe Gläubigkeit“ des tibetischen Volkes aufzeigen lassen. Der tibetische Buddhismus wird so zum Träger einer Utopie, die, bewusst oder unbewusst, den entfremdeten Alltag im Westen kontrastieren soll. Als solches sagen die Religionsfilme mindestens ebensoviel über westliche Phantasien und Sehnsüchte aus, wie über den tibetischen Buddhismus selber. In ihrer Struktur gleichen sie denn auch den Archiv- und Politfilme.

In „Le Message des Tibetains“ (dt. Die Botschaft der Tibeter, 1965), einem der bedeutensten Religionsfilme, folgt nach einem kurzen Überblick die ausführliche Darlegung der esoterischen Praktiken des tibetischen Buddhismus. Immer tiefer führt uns der Filmemacher (und leider nicht die gefilmten Mönche!) in die „geheimen Aspekte“ des Tantrismus ein, bis wir am Ende des Filmes, als „erste Zeugen der geheimen Yogaübungen“ eines bedeutenden tibetischen Mönches, fürs lange Warten belohnt werden. Kommentar des Filmemachers: „Noch vor wenigen Jahren wäre jeder zufällige Zeuge dieser geheimen Übungen aufs schwerste bestraft; worden!“

Ähnliches gilt für den Film „Herr der Tänze“ (1985), der in verschiedenen Ländern Europas zum Kino-Hit wurde. Auch in diesem Film werden wir Zeugen eines „einmaligen Rituals“, das nach längerem Unterbruch, zum ersten Mal wieder in einem tibetischen Kloster in Nepal zelebriert wird. Der Abt des Klosters, der als einziger (!) das Wissen für dieses Ritual besitzt, war 1959 zusammen mit den Mönchen des „höchstgelegenen Kloster in Tibet“, vor den chinesischen Besatzern nach Nepal geflüchtet. Ein Ethnologe nun, hat dieses Ritual „entdeckt“ und dem Westen durch seinen Film zugänglich gemacht.

Trotz der hier angebrachten Vorbehalten gegenüber den Religionsfilmen, sind viele davon, was die (visuelle) Darstellung spezifischer Rituale anbelangt, wichtige und unersetzliche Informationsquellen.

Wichtig scheint mir noch kurz auf drei Filme einzugehen, deren Behandlung des tibetischen Buddhismus sich von anderen Filmen abhebt. Eine bezeichnende Stelle findet sich in Schäfers Film „Geheimnis Tibet“ (1944, Archivfilm), der während einer Nazi-Expedition entstanden ist.

Voll von naiven Fehlkonzeptionen über den Buddhismus, ist es dennoch der einzige Film überhaupt, der die tibetischen Klosterstädte nicht nur (idealisiert) als spirituelle, sondern auch als Zentren politischer Macht (!) beschreibt und damit ein Tabu bricht, das noch heute unangetastet ist.

„Raid into Tibet“ (1962, Politfilm) schildert den Überfall einer tibetischen Guerillatruppe auf einen Konvoi der chinesischen Volksarmee. In einem Gebet mit Mönchen, die die Hilfe der Schutzgottheiten anrufen, bereiten sich die Männer auf den kommenden Kampf vor. Allein die unkommentierte Verbindung des gemeinsamen Gebetes mit dem tibetischen Befreiungskampf, lässt den Buddhismus in einem ganz anderen Licht erscheinen - in einem widersprüchlichen, sozialen und politischen Spannungsfeld nämlich.

Reinkarnation des Khensur Rinpoche

Einer der bedeutenste Film ist sicher „Die Reinkamation des Khensur Rinpoche“ (1991, Religionsfilm). Dieser von einer Inderin und einem (Exil-) Tibeter gedrehte Film – der deshalb schon einmalig ist – beschreibt die Suche eines einfachen Mönches nach der Reinkamation seines verstorbenen Meisters. Nicht die Suche und die Auffindung des jungen Knaben stehen dabei im Zentrum des Filmes, sondern vielmehr der Prozess des Mönches, der von einem Tag auf den andern zum „Vater“ wird und eine neue Verantwortung zu tragen hat. Einfühlsam gelingt es den Filmemachern den kleinen Jungen nicht nur als „lebenden Buddha“ darzustellen, sondern auch als Lausebengel, der quietscht vor Vergnügen, als er seine Legoburg beim Spielen zerstört. In einer wunderschönen Szene berührt der Knabe mit seiner Nase beinahe die Linse der 16mm-Kamera und sagt zum Mönch, der vergeblich versucht hat, ihn daran zu hindern: „Siehst du, dort in der Kamera, ich kann sehen wie meine Nase läuft.“ Das Phänomen der Reinkamation wird im Film nicht behandelt, für Tibeterlnnen ist sie ein Fact und somit kaum der Rede wert. Von einigen Stummfilmen (!) aus den 30er-Jahren abgesehen, sprechen für einmal wirklich die Bilder. Es braucht auch nicht den Kommentar eines selbsternannten Spezialisten. Es sind die Tibeterlnnen die zum ersten Mal vollumfanglich zur Sprache kommen. Es war auch langsam Zeit.  ■

Dr. Luc Schaedler: Studium der Ethnologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Asienreisen von 1988–1990 und 1992. Organisation von drei Tibet-Filmreihen in Zürich (März 1991, April 1992), Dharamsala (September 1992) und einer Filmreihe „Buddhism Focus on Asia“, in Zürich (Oktober 1994) und Delhi (Juli 1995).

Luc Schaedler versteht sich an der Schnittstelle von Film und Wissenschaft. Seit 1996 engagiert er sich in Projekten, die mit visuellen Mitteln wissenschaftliche Forschung betreiben. Er ist Autor und Regisseur des Films »Angry Monk« (2005) über Gendun Choephel eine Arbeit, die er in seiner Dissertation »Angry Monk: Reflections on Tibet: Literary, Historical, and Oral Sources for a Documentary Film« vertiefte.

Er arbeitet seit 2001 als freier Dozent. Neben Workshops und Vorträgen an internationalen Universitäten – darunter Vancouver, New York, Wien, Berlin, Göttingen und Hamburg – sind es vor allem regelmässige Lehraufträge an der Universität Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich des Dokumentarfilmes (Praxis und Theorie), der Ethnologie mit Fokus auf die Visuelle Anthropologie und Tibet (Geschichte, Buddhismus).

© Luc Schaedler 1994

Veröffentlicht in Tibet-Forum 1/95, S. 25.

Mit freundlicher Erlaubnis von Luc Schaedler und Tibet-Forum.
 Text als PDF.