Kurzbiografie von Khunu Lama Tenzin Gyaltsen

von Jürgen Manshardt

Meine Nachforschungen über Khunu Lama führten mich durch viele Himalaja-Regionen und einige asiatische Länder. Eines Tages, es war am 5. April 1996, verließ ich meine bescheidene Unterkunft in Kathmandu, der Hauptstadt des hinduistischen Königreiches Nepal, um den fast hundertjährigen tibetischen Lama Dondo aufzusuchen. Dieser sollte in einem buddhistischen Kloster unweit der berühmten, auf einer Anhöhe gelegenen Svayambhunath-Stupa wohnen und mir womöglich etwas über Khunu Lama erzählen können. Nachdem ich die lange Treppe, die zum Heiligtum hinauf führt, erklommen hatte, kostete es einige Mühe, mich im Wirrwarr der schmalen und dunklen Flure des Klosters zurechtzufinden. Ein junger Mönch half mir bei meiner Suche und schließlich betraten wir die kleine Mönchszelle des betagten Lama.

Zunächst versuchte ich selbst mein Anliegen vorzubringen, aber der schon fast taube und blinde Lama konnte meine Stimme nicht hören. Und so beugte sich der junger Mönch zu ihm herab, um mit fester und lauter Stimme für mich zu fragen, ob er denn tatsächlich diesen großen Meister, Khunu Lama, getroffen habe. Erst schien es, als würde er immer noch nicht verstehen, aber nach einigen Momenten – die wie eine Ewigkeit anmuteten, so als müssten sich die Worte den Weg durch ein halbes Jahrhundert und in die Mitte seines Herzens bahnen – war der Name seines ehemaligen Meisters zu ihm vorgedrungen. Aber statt mir die erhoffte Antwort zu geben, verstummte er – und ließ seinen Tränen freien Lauf. Erst zögerlich und dann unaufhaltsam flossen sie aus seinen nahezu blinden und doch so gütigen Augen über sein zerfurchtes Gesicht – so als legten sie den gleichen weiten Weg zurück, den vorher die Worte genommen hatten, so als kämen sie aus der Mitte seines gerührten Herzens.

Die Jugendzeit

In Sunam (gsung gnam), einer kleinen Ortschaft inmitten eines abgelegenen Tals Nordindiens, unweit der südtibetischen Grenze und umgeben von den nahezu 7000 Meter hohen Gipfeln des westlichen Himalaja, erblickte am Ende des vorletzten Jahrhunderts, etwa im Jahr 1895, ein Knabe das Licht dieser Welt. Er sollte später einer der geachtetsten und wichtigsten spirituellen Meister innerhalb des tibetisch-buddhistischen Kulturraumes werden und eine ganze Generation von Lamas, Yogis und höchsten Würdenträgern beeinflussen.

Dieser Junge wurde als zweiter von insgesamt drei Söhnen in der relativ wohlhabenden Familie Negipang in Kinnaur geboren, einer zerklüfteten, aber wunderschönen Bergregion des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh, die von den Einheimischen als Khunu (khu nu oder ku nu) bezeichnet wird. Er erhielt den Namen Tenzin Gyaltsen (bstan ‘dzin rgyal mtshan), was etwa als „das Siegesbanner des Erhalters der Lehre“ wiedergegeben werden könnte. Im Alter von sieben Jahren, etwa im Jahr 1901, erhielt er von seinem Onkel Rasvir Das, einem gelehrten Laien-Lama der Drukpa-Kagyü-Tradition (’brug pa bka’ brgyud), privaten Unterricht in Tibetisch, der für diesen Kulturraum geläufigen Schriftsprache. Der aufgeweckte Junge lernte mit wachsender Begeisterung einige heilige Texte wie das Sutra über den Diamantenschneider (Skt.: vajracchedika sutra) auswendig; und ab seinem 13. Lebensjahr erhielt er auch von Lama Sönam Gyaltsen (bsod nam rgyal mtshan) selbst Belehrungen über die Vorbereitenden Übungen (sngon ‘gro ‘bum bzhi) entsprechend der Kagyü-Tradition. So wurden seine spirituellen Neigungen früh gefördert und das Interesse an Studien geweckt; der jugendliche Tenzin konnte ihnen allerdings nicht immer nachgehen, besaß er doch viele Verpflichtungen in Haus und Hof, etwa wie das Hüten des Viehs auf den von Obst- und Nadelbäumen umstandenen Weideflächen. Oft verbrachte er die freie Zeit in einem seiner Familie unterstellten Tempel, der zwischen Sunam und dem Nachbarort Giabong gelegen war. Mit 15 Jahren erhielt er dann aber über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren weitere Belehrungen in der monastischen Einrichtung Ngari Tschöling (mnga ris chos gling). Als er daraufhin seinen Eltern gegenüber den Wunsch äußerte, ein ausschließlich der buddhistischen Lehre gewidmetes Leben führen zu wollen, lehnten diese strikt ab. Doch im Alter von etwa 18 Jahren, also kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, gaben seine spirituellen Neigungen und womöglich auch einige häusliche Streitigkeiten den Anstoß, sein Elternhaus und das heimatliche Dorf heimlich bei Nacht zu verlassen.

Der Aufbruch

Den Entschluss zum Fortgehen muss Tenzin Gyaltsen so überstürzt gefasst haben, dass er noch nicht einmal Zeit fand, seine Schuhe anzuziehen; er begab sich stattdessen barfuss, ohne Geld und Proviant auf eine lange Wanderschaft, die fast sein ganzes Leben währen sollte. Über einzelne Stationen durch die angrenzenden Regionen Spiti und Lahaul wanderte er zunächst nach Raison im Kulu-Manali-Tal, wo seine Familie einige Ländereien besaß. Dort trieb er unter dem Vorwand, im Auftrage seiner Familie zu handeln, einige Gelder von Schuldnern ein. Mit dieser bescheidenden Summe konnte er seinen Weg fortsetzen und scheint dabei dem erstaunlich weitsichtigen und eher unüblichen Plan gefolgt zu sein, zunächst ein ausführliches Studium der tibetischen Sprache und des Sanskrit zu absolvieren, um danach die umfassenden und tiefgründigen Lehren des erhabenen Buddha intensiver zu ergründen. War er doch der Überzeugung – wie er später einem seiner Schüler gegenüber äußerte:

„Ohne die Sprachen gemeistert zu haben, kann man die Lehre des Buddha nicht korrekt studieren … Wenn man sie hingegen eingehend erlernt hat, wird das Verständnis so scharf wie eine Axt, mit der man den Baum der Unwissenheit zu fällen vermag, und zudem muss man nicht stets zu einem Lehrer laufen.“

Obwohl Tenzin Gyaltsen sicherlich vorhatte, sein Studium der buddhistischen Philosophie in Tibet fortzuführen, ist es gut möglich, dass er als Hindi-Kundiger zunächst seinen Schritt über Shimla nach Benares (heute Varanasi) wendete, um sich in dieser am Ufer des heiligen Ganges gelegenen, altehrwürdigen Hochburg des Sanskrit-Studiums Grundkenntnisse dieser komplexen und überaus präzisen Sprache anzueignen.

Fest steht jedenfalls, dass Tenzin Gyaltsen um das Jahr 1914 Gangtok, die Hauptstadt des damals noch unabhängigen buddhistischen Königreichs Sikkim, erreichte. Dort fand er zunächst bei seinem Schwager, Sönam Zi Negi, Unterkunft. Aber schon bald begann er im alten Rumtek-Kloster mit einem bekannten sikkimesischen Gelehrten, Urgyen Tenzin ((db)u rgyan bstan ‘dzin), ein drei Jahre währendes Intensivstudium der höheren tibetischen Grammatik, Poesie und weiterer „kleinerer Wissensgebiete“ (rig gnas chung ngu) wie Phänomenologie sowie der Sanskrit-Grammatiken des Candrapa-, Kalapa-, und Sarasvati-Systems samt Kommentaren.

Nach Tibet

Khunu Lama Tenzin Gyaltsen aus KinnaurTenzin Gyaltsen (bstan 'dzin rgyal mtshan), auch bekannt unter den Namen Khunu (khu nu) Rinpoche, Khunu Lama und Negi Lama (ne gi bla ma)
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Um sein eigentliches Ziel zu verfolgen – nämlich die buddhistischen Lehren zu Füßen der großen Meister zu ergründen – reiste Tenzin Gyaltsen im Jahr 1917 in Begleitung des nepalesischen Händlers Newari Kullu Rena auf steilen Saumpfaden das erste Mal nach Tibet. Dabei folgte er der alten Handelsroute, um Shigatse zu erreichen, die zweitgrößte Stadt Tibets, in deren unmittelbarer Nähe sich der Sitz des Pantschen Lama befindet, das imposante und einflussreiche Tashi-Lhünpo-Kloster, welches als wichtigste Studienstätte der Gelugpa-Tradition (dge lugs) in Tsang beziehungsweise Westtibet galt. Dort angelangt wurde er – trotz seiner Herkunft und seines geringen Alters – schon nach kurzer Zeit vom Sekretär des damaligen Pantschen Lama Tschökyi Nyima (pan chen chos kyi nyi ma, 1883–1937) gebeten, tibetische Grammatik und Poesie zu unterrichten. Als Gegenleistung erhielt er Unterkunft und Verpflegung, und zudem erlaubte man ihm, an den Studien über Philosophie, Erkenntnistheorie und Logik teilzunehmen, was gewöhnlich den Mönchen vorbehalten war. Vom Tutor des Pantschen Lama Katschen Sangyä Pälsang (dka chen sangs rgyas dpal bzang) erhielt er die Laiengelübde und Belehrungen zum Pramanavartika, einer berühmten Schrift, die sich mit Logik und Erkenntnistheorie befasst. Und wie in seinem ganzen weiteren Leben nutzte er jede Gelegenheit, um sich durch Eigenstudium weiterzubilden. Er wurde sogar zum Mitbegründer einer in Tibet eher selten anzutreffenden Sprachschule, die Künsig-Schule (kun gzigs slob grwa) genannt und hauptsächlich von höheren Beamten besucht wurde. Trotz der Anerkennung, die ihm zuteil wurde, setzte Tenzin Gyaltsen nach etwa drei Jahren in Shigatse seine religiöse Erkenntnissuche fort.

Er machte sich auf den Weg nach Lhasa, der einige Tagesreisen entfernten Hauptstadt Tibets. Dort wurde Tenzin Gyaltsen – wie zuvor in Shigatse – besonders als Gelehrter auf dem Gebiet der Poesie, Grammatik und „kleineren Wissensgebiete“ geschätzt und kam dadurch in Kontakt mit Lamas, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und einflussreichen Familien wie den Tsarongs und Möngröls. Tenzin Gyaltsen unterrichtete während seines Aufenthaltes in Lhasa meist in der berühmten medizinisch-astrologischen Fakultät auf dem „Eisenberg“, dem Tschagpori, welche vis-a-vis des mächtigen Potala gelegen war. Obwohl er schon in jungen Jahren medizinische Grundkenntnisse erworben hatte, erwachte wahrscheinlich erst hier sein Interesse an den Heilkünsten und medizinischen Schriften, in denen er später umfangreiche Kenntnisse erwerben sollte. Zudem hat er auch einige Zeit in den umliegenden Klosteruniversitäten, etwa Drepung, mit privaten Lehrern die Kunst der Dialektik und anderes studiert, wenn auch nicht auf formelle Weise. Unter den ansässigen Gelehrten in Lhasa gab es jedoch auch einige Neider, die diesem jungen, aus dem indischen Khunu beziehungsweise Kinnaur stammenden „Ausländer“ unterstellten, er unterrichte die tibetische Grammatik fehlerhaft. Der völlig unprätentiöse Tenzin Gyaltsen entzog sich dieser von Missgunst und Intrigen durchsetzten Atmosphäre, indem er – etwa 1925 – den ihm freundlich gesinnten Präfekten von Südosttibet, welcher der Tsarong-Familie angehörte, auf seiner Reise in die Provinz Kham (khams) begleitete.

Die Jahre in Osttibet, Kham

In der Provinz Kham, dem Zuhause der ihre Unabhängigkeit über alles liebenden Khampas (khams pa), war vor nicht allzu langer Zeit durch die Inspiration großartiger Meister wie dem 1. Dschamgön Kongtrül Rinpotsche (‘jam dgon kong sprul; 1813–1899) und Dschamyang Khyentse Wangpo ('jam dbyangs mkhyen brtse'i dbangpo; 1820–1892) die unsektiererische Rime-Bewegung (ris med) entstanden und trug immer noch reichhaltige Blüten einer umfassenden Neubelebung des spirituellen Lebens. Diese Bewegung verfolgte vorwiegend das Ziel, traditionelle Texte, mündlichen Überlieferungen und tantrischen Lehren sowie Einweihungen zu bewahren, besonders jene der Nyingma-, Sakya- und Kagyü-Traditionen.

Zunächst hielt sich Tenzin Gyaltsen etwa vier bis fünf Jahre in Derge (sde dge) auf, im Herzen dieser Bewegung, wo man ihn die ersten Jahre am Hofe des dortigen Herrschers sah, welcher ihn gebeten hatte, den Mitgliedern der „königlichen“ Familie Unterricht in Grammatik und anderen grundlegenden Wissengebieten zu erteilen. Später sollten Gerüchte aufkommen, dass der Umgang mit den königlichen Kindern, namentlich einer Prinzessin, wohl zu eng war: Als sie einen unehelichen Sohn gebar, musste man – wohl zu Recht – annehmen, dass der Lama aus Khunu, sprich Tenzin Gyaltsen, seinen Teil dazu beigetragen hatte. Während seines Wirkens am Hofe von Derge erwarb sich Tenzin Gyaltsen, der von den meisten Tibetern bereits als „Khunu Lama“ bezeichnet wurde, auch die Beinamen „Gyagar Lama“ (rgya gar bla ma; Meister aus Indien) und „Dra Lama“ (sgra bla ma; Meister der Grammatik und Sprachkünste). Letzterer Titel gebührte ihm, da er in dieser Zeit sein bis heute weithin gebräuchliches Erstlingswerk mit dem Kurztitel „Ngagdrön“ (ngag sgron) oder „Lampe, welche die Rede erhellt“ verfasste. Die gut ausgestattete Bibliothek in Derge mit ihren berühmten Ausgaben und Sammlungen bot ihm eine einzigartige Gelegenheit, um mit seiner enormen Auffassungsgabe viele Werke nicht nur inhaltlich zu erfassen, sondern – wie es der tibetischen Tradition entspricht – sie sich auch im Wortlaut einzuprägen. So meisterte Khunu Lama Tenzin Gyaltsen unter anderem die 13 grundlegenden Schriften der Nyingma-Tradition und vertiefte sich in das Studium der Astrologie. Zudem befasste er sich mit tibetischen Kommentarwerken zu drei von insgesamt vier unterschiedlichen Grammatik-Systemen des Sanskrit. Khunu Lama nutzte jede freie Minute zum Studieren der verschiedensten Schriften und begann – meist in den Nachtstunden – damit, gleichzeitig intensiver über die erlernten Inhalte zu meditieren.

Im Laufe der Zeit durchwanderte Khunu Lama andere Regionen Khams, um in verschiedenen Klöstern wie Kathog, Dzogtschen und Dzongsar große Meister aufzusuchen, die ihm tantrische Einweihungen, Lehren und mündliche Praxisanweisungen übertrugen. Sein Ruhm hatte sich so weit verbreitet, dass er sogar den berühmten Großmeister der Dzogtschen-Lehren, Khempo Schänga Rinpotsche (mkhan po gzhan dga‘), dazu bewegen konnte, ihm wichtige Belehrungen zu geben, obwohl der betagte Meister – in Vorbereitung auf seinen nahenden Tod – eigentlich seine Lehrtätigkeit aufgegeben und sich zum Meditieren zurückgezogen hatte. Wie ein frei umherwandernder Yogi-Gelehrter besuchte er auch abgelegene Klöster wie zum Beispiel das Nyingma-Kloster Khangdong (khang gdong) an der Grenze zur nordöstlichen Provinz Amdo und das berühmte Gelug-Kloster Kumbum (sku ‘bum) am Geburtsort von Dsche Tsong Khapa (tsong kha pa; 1357-1419). So studierte Khunu Lama, ohne sich an eine Tradition oder ein Kloster zu binden, eine Vielzahl von Texten, die man in Zentraltibet bestenfalls dem Titel nach kannte. Selbst vor den Lehren der präbuddhistischen Bönpos machte sein Wissensdurst nicht Halt: Es wird berichtet, wie er im Kaya Bönpo-Kloster versuchte, die Bibliothek einzusehen, ihm aber vom Ober-Lama der Zutritt mit der Begründung verwehrt wurde, er gehöre nicht der Bön-Religion an.

Neben seinem Studium war es Khunu Lama besonders wichtig, Meditationsmeister aufzusuchen, die sich für Jahre oder gar Jahrzehnte in die Einsamkeit unzugänglicher Bergklausen zurückgezogen hatten. Von ihnen lernte er unter anderem zahlreiche dem indischen Yoga verwandte Praktiken, die auf tibetisch „Tsa-Lung“ heißen und meist geheim gehalten werden. Es heißt, Khunu Lama habe diese sehr viel Übung erfordernden Techniken wie auch die so genannten „Sechs Yogas von Naropa“ vollständig gemeistert. Immer öfter zog er sich dann auch allein oder in Begleitung anderer Adepten zur Meditation in die Einsamkeit zurück. Wie bei all seinem Handeln nahm er dabei keine Rücksicht auf sonst übliche Gepflogenheiten. So meditierte er beispielsweise unweit des Dzogtschen-Klosters zusammen mit drei Nonnen und einigen weiblichen Laien-Praktizierenden über die Natur des ursprünglichen Gewahrseins – anhand der Schrift Yesche Lama (ye shes bla ma), eines berühmten Dzogtschen-Textes, den er später sehr oft lehrte.

Insgesamt blieb Khunu Lama etwa 14 Jahre in Osttibet, immer studierend, lehrend und meditierend, ohne sich dabei durch Titel, Lehrämter, materielle Interessen, Prestige oder ein stark reglementiertes Klosterleben binden zu lassen. Sein Bestreben, sich einzig der Lehre zu widmen und die dafür erforderliche Unabhängigkeit zu wahren, dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass er nie die Mönchsgelübde angenommen hat. Hinzu kam, dass „er niemanden fand, dem er genug vertraute, um sich von ihm ordinieren zu lassen“, wie er selbst kurz vor seinem Tod gegenüber westlichen Dharma-Studenten in Manali äußerte.

Trotz seiner Gelehrsamkeit und inneren Verwirklichungen wurde Khunu Lama von gewöhnlichen Menschen aufgrund seines ärmlichen und bescheidenen Auftretens oft verkannt. Gleiches sagt man über den großen Meister Patrül Rinpotsche (dpal sprul; 1808–1887), mit dem Khunu Lama oft verglichen wird. Und wie dieser liebte es Khunu Lama, sich immer wieder in das berühmte indische Werk Bodhicaryavatara oder Eintritt in die Handlungen der Bodhisattvas zu vertiefen, das den Erleuchtungsgeist und die daraus entspringenden Handlungen zum Wohle der Wesen beschreibt. Es heißt, Khunu Lama habe dieses Werk, genau wie der große Dzogtschen-Meister Patrül, immer auf seinen Wanderungen mit sich geführt, obwohl er es in- und auswendig kannte. Khunu Lama selbst sagte einmal:

„Wenn jemand wirklich spirituell wird, dann muss er die Qualitäten von liebender Güte und Mitgefühl immer weiter entfalten. Und wer diese Tugenden besitzt, wird jeden in seiner Nähe glücklich machen.“

Und so widmete er sich immer mehr dem altruistischen Erleuchtungsgeist (Skt.: bodhicitta), was zur Quelle für den erst später verfassten Lobpreis des Erleuchtungsgeistes wurde.

Obwohl Khunu Lama zu jener Zeit als großer Gelehrter galt, muss ihm sein Kenntnisstand ungenügend erschienen sein; etwa 1938 muss in ihm der Entschluss gereift sein, nach Indien zurückzukehren. Da er in Kham beinahe alle verfügbaren Quellen ausgeschöpft hatte, wollte er nun die buddhistischen Lehren des Großen Fahrzeugs (Skt.: mahayana) mitsamt den Geheimlehren (Skt.: tantrayana) in ihrer Originalsprache, dem Sanskrit, genauer studieren, und dies obwohl er schon das reife Alter von etwa 43 Jahren erreicht hatte. So war es höchst wahrscheinlich der Wunsch, intensiver das in Tibet nicht gelehrte Panini-System des Sanskrit zu studieren, welcher ihn wieder in die heißen Tiefebenen des indischen Subkontinents zurückführte. Auch hierin wird deutlich, wie gewissenhaft Khunu Lama sein Studium und das Vermitteln der Lehren des Buddha betrieb. Er selbst sagte einmal in Anlehnung an den indischen Meister Nagarjuna: „Wenn ein Meister nur ein einziges Wort in falscher Weise erklärt, ist er kein Meister.“

Und so verließ Khunu Lama um das Jahr 1938/39 Kham und hielt sich zunächst für etwa drei Jahre erneut in Lhasa auf. Dort lehrte er auf Bitten der tibetischen Regierung wieder im Medizinisch-Astrologischen Institut auf dem „Eisenberg“, gab aber zum Beispiel auch dem Seniortutor des jetzigen Dalai Lama und späteren Oberhaupt der Gelug-Tradition, Yongdzin Ling Rinpotsche (yongs 'dzin gling; 1903–1983), Unterricht in Sanskrit und anderen Fächern.

Rückkehr nach Indien

Etwa 1942 kehrte Khunu Lama wieder nach Indien zurück, wo er die ersten Jahre in seiner Heimatregion Kinnaur beziehungsweise Khunu verbrachte. Er wurde hier als Meister gefeiert und gab an verschiedenen Orten eher einfache Belehrungen, die seiner Zuhörerschaft angemessen waren. Zudem verfasste er für sie einige kurze Texte über tibetische Grammatik. Es heißt, Khunu Lama habe, noch während er in Kinnaur weilte, 1948 von der Ermordung Mahatma Gandhis gehört und aus Trauer einen Tag lang kein Essen angerührt. Etwa ein Jahr später musste er zudem von der erst schleichenden und dann immer gewaltsamer werdenden chinesischen Invasion in Tibet erfahren.

Kurz nach diesen tragischen Ereignissen sollte Khunu Lama, mittlerweile schon über 50 Jahre alt, seine Sanskrit-Studien in Kalkutta und ein Jahr später in Varanasi wieder aufnehmen, wo er auch eine Zeit lang gemeinsam mit dem berühmten Amdo Gendün Choephel (dgen 'dun chos 'phel; 1902–1951) studierte. Khunu Rinpotsche, „der kostbare Meister aus Kinnaur“ wie er auch immer öfter genannt wurde, wohnte während des folgenden Jahrzehnts meist in einem Hindu-Ashram – wie ein Sadhu mit einem einfachen orangenen Tuch bekleidet – in einem kleinen Zimmer auf dem Dach des Lakshmi Kund Tekramat. Er liebte es, morgens am Ufer des Ganges schweigend spazieren zu gehen und abends mit den hinduistischen Pandits philosophische Themen zu diskutieren oder im spärlichen Schein eines brennenden Räucherstäbchens seine heiligen Texte zu studieren. Neben seinen Sanskrit-Studien las er aber auch Zeitung und befasste sich mit allen möglichen Hindu-Philosophien wie dem Advaita-Vedanta-System oder den Yoga-Sutras des Patanjali, was für einen buddhistischen Meister äußerst unüblich ist. In diesem Umfeld mag er auch die Inspiration erhalten haben, das indische Hatha-Yoga gründlich zu erlernen, und so begab er sich für etwa ein Jahr nach Bombay, wo er Yoga-Übungen entsprechend der Jain-Religion studierte, welche er dann bis ins hohe Alter geflissentlich jeden Morgen praktizierte. Stets führte Khunu Lama aber auch seine umfangreichen und hauptsächlich dem Erleuchtungsgeist und der Erkenntnis der eigentlichen Realität gewidmeten Dzogtschen- und Mahamudra-Meditationen weiter. Pilger wie auch Schüler, die ihn in seinem fast leeren Zimmer hoch über dem Wirrwarr der engen Gassen aufsuchten, trafen ihn oft in einer speziellen Hockstellung und mit einem Tuch über dem Kopf meditierend an oder – nicht selten nackt – auf dem Dach in den offenen Himmel blickend. Wie bereitwillig und gütig Khunu Rinpotsche auf seine Besucher einging, mag die Erinnerung von Sangharakshita, dem englischen Begründer des FWBO (Westlicher Buddhistischer Orden), verdeutlichen, der 1956 in Varanasi kurz mit Khunu Lama zusammentraf¹: „… Als wir uns anschickten aufzubrechen, schaute er [Khunu Lama] sich im Raum nach etwas um, das er mir geben könne. Es war aber nichts da. … Er gab sich jedoch nicht geschlagen … und als wäre er von einer plötzlichen Eingebung ergriffen, zerriss er die Schnur seiner Gebetskette und gab mir eine Perle mit den Worten: ‚Viele Millionen Mantras wurden auf diese Perle gesprochen. Bitte, nimm sie mit meinem Segen.‘“

Noch im selben Jahr wurde Khunu Lama vom ehrwürdigen, aus Ladakh stammenden Kushok Bakula Rinpotsche nach Srinagar eingeladen, um diesen Sanskrit zu lehren. Bakula Rinpotsche, der später lange als indischer Botschafter in der Mongolei tätig war, war damals Parlamentsabgeordneter für den Bundesstaat Jammu & Kashmir. Da ihm seine Verpflichtungen kaum Zeit zum Studium ließen, kehrte Khunu Lama jedoch bald wieder nach Varanasi zurück.

1956 war auch das Jahr, in dem – auf Veranlassung des indischen Premierministers Nehru – der 2500ste Geburtstag des Buddha, die so genannte „Buddha Jayanti-Feier“, offiziell zelebriert wurde. In den Augen vieler Buddhisten mehrten sich dadurch die Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des Buddhismus in dessen Geburtsland Indien. Zu den Feierlichkeiten reisten auch der junge 14. Dalai Lama und der Pantschen Lama nach Indien und besuchten unter anderem die heilige Stadt Varanasi. Hier, im Gedränge der Schaulustigen, fand die erste kurze Begegnung zwischen dem Dalai Lama und Khunu Rinpotsche statt, und zwar durch die Vermittlung eines Übersetzers der Delegation, dem Ladakhi Tashi Rabgyas. Dieser war in Srinagar ein Schüler von Khunu Lama gewesen, und als er seinen ehemaligen Lehrer bescheiden am Straßenrand stehen sah, zerrte er ihn am Arm vor die hohen Lamas und stellte ihn diesen kurz vor. Aber erst Jahre später, nachdem der Dalai Lama 1959 vor den Chinesen ins indische Exil geflohen war, kamen auf Wunsch des Dalai Lama längere Begegnungen zustande. Dabei hat Khunu Rinpotsche viele Übertragungen und Belehrungen, insbesondere über den Erleuchtungsgeist und das Bodhicaryavatara – also das Herzstück der Mahayana-Lehren – an Seine Heiligkeit weitergegeben, die Seine Heiligkeit heutzutage bei jeder Gelegenheit so ergreifend lehrt.

Dilgo Khyentse Rinpoche + Khunu Lama Tenzin Gyaltsen aus KinnaurDilgo Khyentse Rinpoche und Khunu Lama Rinpoche

Der Dalai Lama hatte – besonders von seinem Hauptlehrer Ling Rinpotsche – von den Qualitäten dieses indischen Bodhisattva und Yogi-Gelehrten gehört und teils unter Tränen dessen Lobpreis des Erleuchtungsgeistes gelesen, und so wünschte Seine Heiligkeit, von Khunu Lama Belehrungen zu erhalten. Dieser Umstand machte Khunu Lama mit einem Schlag auch unter den gewöhnlichen Exil-Tibetern bekannt. Vor allem aber beeindruckte sie eine Begebenheit, bei der der Dalai Lama sich bei einem unverhofften Zusammentreffen mit Khunu Lama in Bodh Gaya mitten auf einem staubigen Weg verneigte, vor ihm, der sich in den Augen gewöhnlicher Betrachter eher wie ein Bettler mit Stoppelbart und zerschlissener schwarzer Wollkleidung² ausnahm.

In Mussorie, einer ehemaligen britischen „Hill Station“ in den Vorbergen des Himalaja, dem ersten Wohnort des Dalai Lama nach seiner Flucht 1959, lehrte Khunu Lama auf Bitten Seiner Heiligkeit vielen hohen Lamas Grammatik und einen Lobpreis der Vorzüglichkeit des Buddha (Skt.: vishesastava; tib.: khyad dpar 'phags bstod)³ und wurde aufgrund seines alle Traditionen umfassenden Wissens unter einer ganzen Generation von Tulkus, Geshes, Khempos und anderen Meistern noch berühmter. Nicht nur durch die Kenntnis zahlloser Texte – die er mühelos mit seinem anscheinend photographischen Gedächtnis erinnern konnte – beeindruckte Khunu Lama seine Zuhörerschaft, sondern vor allem durch die Beschreibung von Meditationszuständen, die er so plastisch veranschaulichte, als würden sie alle seiner unmittelbaren Erfahrung entspringen.

In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod führte Khunu Rinpotsche jedoch sein äußerlich unstetes Wanderleben fort, und oft verschwand er so plötzlich wie er gekommen war. Meist hielt er sich an heiligen Stätten wie Varanasi, Bodh Gaya und Nalanda auf oder – wenn die Hitze zu drückend wurde – in höher gelegenen Orten wie Gangtok, Darjeeling, Kalimpong, dem Kullu-Manali-Tal oder Kathmandu.

Etwa 1970 schloss sich ihm eine Tibeterin als Schülerin und ständige Begleiterin an, die selbst außerordentlich gelehrt und hoch verwirklicht war und einige hohe Lamas zu ihren Schülern zählte. Sie hieß Scherab Tartschin (shes rab mthar phyin; 1929–1979), wurde aber seit früher Jugend „Drikung Khandro“ ('bri gung mkha' 'dro) oder später auch „Khandro Rinpotsche“ genannt und entstammte einer reichen Familie aus Drikung in Zentraltibet.

BuchtitelBuch: Allen Freund sein – Poesie des Erleuchtungsgeistes von Jürgen Manshardt (Herausgeber) und Khunu Lama (Autor). Erschienen 2004 im Diamant-Verlag.

Kurz vor Khunu Lamas Tod reisten die beiden über Manali nach Karsha beziehungsweise Lahaul in der Nähe von Ladakh. Dort, nicht weit von Khunu Lamas Heimatregion Kinnaur entfernt, gab er an verschiedenen Orten, meist in Klöstern, Belehrungen und wies auch einsam oder in Gruppen Meditierende in geheime Praktiken ein. Während er im Shashül Kloster (bkra shugs gling) oberhalb von Keylong den Juwelenschmuck der Befreiung (dwags po thar rgyan), einen Text des tibetischen Meisters Gampopa (sgam po pa; 1079-1153), lehrte, verschlechterte sich der Gesundheitszustand des nunmehr 83-jährigen Khunu Lama dramatisch. Und nachdem er viel Blut gespuckt hatte, verstarb er, den der Dalai Lama oft einen „Bodhisattva unserer Zeit“ genannt hatte und der vielleicht einer der einflussreichsten Lamas des 20. Jahrhunderts gewesen ist am 22. Februar 1977, kurz nach Mittag, um 14:13 Uhr, in einem kleinen Häuschen direkt neben dem Kloster. Unter Beteiligung einer großen Schar von Lamas, Mönchen und Laien wurde sein Leichnam auf zeremonielle Weise vor Ort eingeäschert, und ein Großteil seiner Reliquien wurde in den Stupa eingebracht, der das Titelbild dieses Buches schmückt.

Schlussbemerkung

Diese kurze Biografie kann natürlich nur einen ersten Eindruck der vielschichtigen Persönlichkeit und des überaus interessanten Lebens von Khunu Lama vermitteln. Aus dem reichhaltigen, in langjähriger Forschung gewonnenen Material fand nur ein Bruchteil Eingang in diese Lebensbeschreibung. Aus Platzgründen wurde auch weitgehend auf Quellenangaben verzichtet und nur die wichtigsten tibetischen Namen in ihrer wissenschaftlichen Umschrift wiedergegeben. Eine ausführliche Biografie dieses Bodhisattva und Lehrers des Dalai Lama ist jedoch geplant und soll das Versäumte nachholen. Das ebenfalls von Jürgen Manshardt verfasste Buch wird im Diamant Verlag unter dem Titel Der indische Guru des Dalai Lama – das Leben des Khunu Lama erscheinen, und soll, wie bereits erwähnt, ein Interview mit Seiner Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama, enthalten.  ■


Fußnoten

¹ Aus: Sangharakshita: In the Sign of the Golden Wheel, Windhorse Publications, Birmingham 1996; Seite 318/319 und in einem Brief an den Autor; Zitat übersetzt von Jürgen Manshardt.

² Khunu Lama trug bei kalten Wetterlagen eine dunkle Tschuba, ein bis zu den Knöcheln reichendes Gewand, wie es in Ladakh noch heute zu sehen ist.

³ Später wurden Khunu Lamas Erklärungen zu diesem Lobpreis vom Sherig Pakhang in Dharamsala, Indien, unter dem Titel: „khyad dpar 'phags bstod kyi bshad 'khrid rtsa 'grel“ herausgegeben.

Ornament

Jürgen Manshardt studiert und praktiziert Buddhismus seit 1979, davon sieben Jahre als Mönch, meist unter Leitung von Geshe Thubten Ngawang. Er ist Autor und Übersetzer buddhistischer Bücher, wirkt als Dolmetscher für Meister aller tibetischen Traditionen und betreibt den Dharmata-Verlag.

Im Dharmata-Verlag erschien im Jahr 2007 Jürgen Manshardts Broschüre Offene Weite – freier Geist? Die nicht-sektiererische Rime-Bewegung im tibetischen Buddhismus.

© Jürgen Manshardt & Diamant Verlag

Dieser Artikel wurde am 15. April 2004 in Allen Freund sein – Poesie des Erleuchtungsgeistes, Jürgen Manshardt (Herausgeber), Khunu Lama (Autor) im Diamant-Verlag, S. 16–29, veröffentlicht.

Online-Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Verlages und des Autors.